15. MainzerMedienDisput vom 25. November 2010.pdf - Talk-Republik
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Und je mehr er liest, desto mehr fragt er sich, ob er wirklich in einer Bibliothek sitze<br />
oder nicht doch eher in einem Irrenhaus. Aber weil er Geisteswissenschaftler ist<br />
und kein Psychiater, lässt er die Frage vorläufig offen. Statt eine Antwort zu suchen,<br />
wird er sich eine neue Frage stellen. Sie lautet: Wenn Journalisten wirklich niemals<br />
irren, weil sie Götter sind, und Götter sind, weil sie niemals irren: Welche Gottheit<br />
tritt uns dann in ihnen gegenüber? Vollkommen klar, es gibt nur eine, die sich dafür<br />
hergibt, eine, die fast alle Welt seit alters her anbetet, wenn auch nicht immer<br />
schätzt. Die alten Nordvölker nannten diesen Gott Forseti, in Japan betete man zu<br />
Susanoo, in Iran einst zu Vayu, die Römer nannten ihn Aeolus, die Griechen Zephyros.<br />
Wie auch immer ihn die Menschen rufen, stets ist Zephyr sowohl Gott des Windes<br />
als auch der Wind selbst, stets ist er der, der die Winde schaukeln lässt und stets<br />
auch der schaukelnde Wind. Er ist der, der dem Wind die Richtung weist und stets<br />
ist der Wind schon da. Der Gott des Windes kann die Windrichtung ändern, irren<br />
kann er sich darin nicht, der Wind kann eben noch von vorn, gleich schon von der<br />
Seite wehen – verirren kann er sich nicht. Journalist ist nur ein deutsches Wort für<br />
Zephyr.<br />
Ist das die Antwort? Es ist eine Antwort, von der wir hoffen, dass unser Doktorand<br />
sie nicht finden wird, und wenn er sie findet – dass er sich nicht mit ihr abfinden<br />
wird. Wir können nur wünschen, dass er weitersucht, hartnäckig, unverdrossen,<br />
immer angetrieben von dem Ziel, vielleicht eines Tages doch noch in der irrtumsfreien<br />
Welt der Medien auf einen Irrtum zu treffen, zumindest auf den Hinweis,<br />
dass es einmal einen gegeben hat, einen freien Autor vielleicht, einen Wirtschaftsredakteur,<br />
einen Auslandskorrespondenten, der nicht mehr Gott sein wollte, auch<br />
kein sterblicher Gott ,sondern ein schreibender und redender Mensch, der irrt von<br />
Zeit zu Zeit. Wenn es von diesem Menschen einen Nachlass gäbe, dann könnte sich<br />
ein Brief darin finden und in dem Brief die Worte: „Lieber Leser, hören Sie meine<br />
Beichte. Ob Sie sie mir glauben oder nicht glauben, das ist nicht mehr wichtig, aber<br />
wichtig ist, dass ich beichte. Was ich beichte? Nichts, was Sie nicht längst schon<br />
wüssten. Sie wissen sicher noch, dass ich vor ein paar Jahren schrieb, das die Kernenergie<br />
die Zukunft in Deutschland hinter sich habe, Schluss, Aus, Ende. Und wie<br />
gut das sei und wie schön für unsere Enkel. Dann wissen Sie auch, dass ich einige<br />
Jahre später schrieb – ich schätze, das war im Jahr 2010 –, Kernkraftwerke seien<br />
Deutschlands Zukunft für die nächsten 10, 20, 30 Jahre und wie gut das sei und wie<br />
günstig für uns. Ich denke auch an jenen Essay, in dem ich nachweisen konnte,<br />
dass die kleinen Tigerstaaten China unvermeidlich überholen würden, und auch an<br />
jenen Essay, lange Zeit später, mit dem wunderbar originellen, geistreich-ätzenden<br />
Titel: „Vormals Tigerstaaten – heute Bettvorleger“. Es gab eine Zeit, da wusste ich,<br />
Bushs Feldzug gegen Saddam Hussein wäre nach 100 Tagen vorbei, aber früher<br />
glaubte ich auch, Guido Westerwelle sei kein Synonym für Vakuum. Nun ja, ich war<br />
auch sicher, wenn ich nach Mainz käme, dann wäre Nikolaus Brender noch da ...<br />
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