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Cicero Judenfeind Luther (Vorschau)

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SALON<br />

Porträt<br />

IMMER NUR 100 PROZENT<br />

Die deutsch-brasilianische Sängerin Dillon treibt mit ihrem zweiten Album die Kunst der<br />

Reduktion voran. Sie sucht das Glück und das Gleichgewicht jenseits aller Melancholie<br />

Von ALEXANDER KISSLER<br />

Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz für <strong>Cicero</strong><br />

Wäre das Universum anders<br />

geordnet, wenn sein Soundtrack<br />

von Dillon stammte?<br />

Die Frage steht unter dem Video zu Dillons<br />

Lied „Thirteen – Thirtyfive“, das bei<br />

Youtube bisher rund neun Millionen Mal<br />

angeklickt worden ist und das man einen<br />

Hit nennen darf: „Wie“, will eine Hörerin<br />

wissen, „würde die Welt wohl aussehen,<br />

wenn diese Art Musik von jedermann gehört<br />

werden würde?“ Eine Begegnung<br />

mit Dillon schafft keine letzte Klarheit:<br />

Würden wir alle so traurig blicken wie<br />

sie auf ihren Fotos und Covern? Oder<br />

würden wir uns verstanden und getröstet<br />

fühlen durch eine zaubrische Stimme,<br />

durch rätselhafte Worte und einen nach<br />

innen zielenden, sehr reduzierten Klang?<br />

Die Kunst der Dominique Dillon de<br />

Byington, genannt Dillon, geboren vor<br />

25 Jahren im brasilianischen São Paulo,<br />

ist eine Raumordnungskunst. Es gibt eine<br />

innere und eine äußere Geografie. Thermische<br />

Gesetze walten, wenn diese Musik<br />

um sich greift. „Platz“ ist das Hauptwort.<br />

Dillon verwendet es oft, wenn sie<br />

von dem spricht, was schwer zu trennen<br />

scheint, ihrem Ausdrucks- und ihrem<br />

Verschweigungsbedürfnis.<br />

Das neue Album „The Unknown“,<br />

mit dem sie durch Europa tourt, ist karg<br />

instrumentiert, „weil ich Platz brauche,<br />

um das zu singen, was ich singen will“,<br />

„mehr Platz!“ Ihre Stimme, die im Konzert<br />

an das isländische Pop-Wunder Björk<br />

erinnert, wird entschieden, springt eine<br />

Terz nach oben: „Mich hat alles, was zu<br />

viel war, vom Wesentlichen abgelenkt.“<br />

Es ist die Frage jeder großen Kunst: Was<br />

kann, was muss weggelassen werden, damit<br />

das Wahre, Schöne, Gute erscheint?<br />

Entschieden weist sie auch die naheliegende<br />

Deutung ihres mitsummtauglichen<br />

Hits vom Album „This Silence<br />

Kills“ (2012) zurück. Dass da eine<br />

unmögliche, skandalöse Liebe zwischen<br />

zwei Menschen mit einem Altersunterschied<br />

von 22 Jahren verhandelt werde,<br />

die böse endet. „You’d be thirteen, I’d<br />

been thirtyfive, gone to find a place for us<br />

to hide.“ Aber nein, wieso, „es kann auch<br />

eine Uhrzeit sein“. Sie schreibe Gedichte<br />

und vertone diese, keine Artikel. „In ihrer<br />

Irrationalität ist sie auch sehr rational.“<br />

Pause. „Ich also.“ Sagt das jemand<br />

von ihr? „Nein. Nein.“ Ein Lächeln will<br />

sich auf ihrem Gesicht niederlassen und<br />

überlegt es sich anders.<br />

WARUM LIESS DIE FAMILIE Brasilien hinter<br />

sich, wanderte nach Deutschland<br />

aus über Österreich, ehe die Mutter die<br />

fünfjährige Dillon auf den Arm nahm,<br />

ihr Köln zeigte, das sei nun die Heimat?<br />

Wegen Wim Wenders. „Der Himmel über<br />

Berlin“ habe die Mutter beeindruckt.<br />

Oder es war der Wunsch, den Kindern –<br />

fünf Geschwistern schließlich – echten<br />

Schnee zu zeigen. Auf jeden Fall sei sie<br />

mit 18 Jahren, nach dem Abschluss einer<br />

englischsprachigen Schule in Köln, allein<br />

nach Berlin gezogen, ihrer großen Liebe<br />

unter den Städten. „Doch mittlerweile<br />

habe ich eine Affäre mit Paris.“ Da gebe<br />

es ganz andere Platz- und Raumverhältnisse.<br />

Sie schaut zur Decke. Das Lächeln<br />

schwirrt herbei, landet, bleibt.<br />

Es sei ja gar nicht wahr, dass sie melancholisch<br />

ist, ein schreckliches Wort,<br />

„das pure Dazwischen, ein Schwebezustand,<br />

in dem man sich leidtut“. Melancholie<br />

müsse sich verwandeln in Verzweiflung<br />

oder Hoffnung, Wut oder<br />

Glück, dann werde es interessant. Sie<br />

sei an guten Tagen „ziemlich ausgeglichen.<br />

Ich habe es bis jetzt nur nicht geschafft,<br />

in meiner Musik ausgeglichen zu<br />

sein.“ Das Lächeln breitet sich aus. Bald<br />

muss es weichen. Natürlich, mit 16 Jahren<br />

habe sie sich ohne Notenkenntnisse<br />

an das elterliche Klavier gesetzt, aus Langeweile,<br />

Verzweiflung, Angst, und nach<br />

Tasten gesucht, „die mit mir zusammen<br />

singen konnten“. Im Schreiben und Lesen<br />

und Singen kam sie dann zu sich.<br />

„Ich musste mich mit mir selbst auffüllen.<br />

Jahrelang.“<br />

Dillon singt in weiten Bögen, langsam,<br />

repetitiv, sie haucht und gurrt und<br />

zieht das Tempo an, ehe die Kreise wieder<br />

kleiner werden, singt auf einem zart<br />

gewebten Teppich aus elektronischen<br />

Beats, singt vom Weg ins Unbekannte,<br />

einem Wir, das auseinanderbricht, dem<br />

Zug der Gedanken, der entgleist, aber<br />

auch von Knoten, die sich lösen, einem<br />

immergrünen Wald tief drinnen, dem<br />

Wandel, dem Verlangen. Pop sei das nicht,<br />

dazu fehle es am „plakativen Sex“.<br />

Ein Klavier sendet einzelne Töne,<br />

die über sich selbst erschrecken, Schläge<br />

wie auf Bambus treten dazu. Undenkbar,<br />

dass Trompeten erklängen wie noch beim<br />

Debüt, ein Kinderchor oder dieses muntere<br />

Fingerschnippen. Reduktion ist hier<br />

alles, die Stimme nimmt sich den Raum.<br />

Man vergisst das nicht. Sie fräst sich hinein,<br />

diese Stimme, in das fremde Ohr,<br />

die andere Seele. Schlägt Haken und verharrt<br />

an Stellen, die es vorher nicht gab.<br />

Auch im Leben, sagt Dillon, brauche<br />

es ein Umfeld, das Raum gibt. In<br />

der Kunst habe sie sich den Platz geschaffen,<br />

schaffen müssen, „man hat ja<br />

nur 100 Prozent“. Das heißt: Jedes Zuviel<br />

wird ein Zuwenig, wenn die innere<br />

Stimme versagt. Oder das Ich zu stumpf<br />

ist, um auf sie zu hören. Das Universum<br />

nach Dillon wäre ein weites Land mit<br />

sehr aufmerksamen Menschen.<br />

ALEXANDER KISSLER leitet bei <strong>Cicero</strong><br />

den Salon. Dillons schwebende Musik<br />

erinnert ihn manchmal an Haikus und<br />

manchmal an die Stunden vor Dämmerung<br />

119<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014

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