Cicero Judenfeind Luther (Vorschau)
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Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein; Foto: Privat<br />
Krimbewohner und Russen verankerten Geschichte der Region.<br />
So etwa die als Heldentaten interpretierten Verluste in<br />
Sewastopol und eine stark verkürzte Interpretation von Chruschtschows<br />
„Geschenk“. Aus Archivdokumenten geht hervor,<br />
dass der Anlass des 300. Jubiläums des Perejaslaw-Vertrags als<br />
Symbol slawischer Freundschaft die im letzten Moment eingebaute<br />
offizielle Begründung, nicht aber das Motiv für den Transfer<br />
war. Chruschtschow hatte die Idee bereits in den vierziger<br />
Jahren vergeblich mit Stalin diskutiert. 1953/1954 gewann<br />
das Projekt durch administrative Argumente für eine Anbindung<br />
der wirtschaftlich vernachlässigten Region an Kiew sowie<br />
Chruschtschows eigenes machtpolitisches Kalkül an Konturen.<br />
Die Legitimität dieser Entscheidung ist von russischen<br />
Politikern und prorussischen Kräften auf der Krim immer wieder<br />
bestritten worden.<br />
Doch die Krim verbindet sich auch mit anderen Identitäten.<br />
Für die Krimtataren ist die Halbinsel ihre nationale Heimat.<br />
Darüber hinaus weisen Meinungsumfragen immer wieder<br />
auf die Existenz einer regionalen Krimidentität hin, die über<br />
ethnische, linguistische und politische Kategorien hinausgeht.<br />
Der jüngsten Volksumfrage von 2001 zufolge definierten sich<br />
58 Prozent der Krimbevölkerung als Russen, 24 Prozent als<br />
Ukrainer, und 12 Prozent als Krimtataren. Eine Mehrheit der<br />
Ukrainer gab Russisch als ihre Muttersprache an.<br />
Diese Zahlen und das offizielle Referendumergebnis sagen<br />
aber wenig über die tatsächliche Stimmung aus. Die jüngere<br />
Generation der slawischen Bevölkerung ist sich der Besonderheiten<br />
der Krim bewusst, aber im ukrainischen Staat aufgewachsen.<br />
Darüber hinaus ist eine kulturelle Affinität zu Russland<br />
nicht unbedingt mit einer Zustimmung für das politische<br />
System Russlands gleichzusetzen. Die Krimtataren, deren Zahl<br />
inzwischen auf etwa 13 Prozent gestiegen ist, waren bisher eine<br />
geeinte politische Kraft. Nach dem Referendum werden diese<br />
Einheit, ihre traditionell skeptische Haltung gegenüber Moskau<br />
und die Mittel, mit denen sie für ihre Rechte kämpfen, getestet.<br />
Sie werden damit zum wichtigsten regionalen Akteur mit<br />
Einfluss auf die regionale Stabilität und Putins nächste Schritte.<br />
Moskau kann sich eine Destabilisierung der Region nicht leisten<br />
und wird im Falle einer Mobilisierung der Krimtataren eher zu<br />
Verhandlungen über den Krimstatus bereit sein.<br />
Der ukrainische Staat sieht schwächer aus, als er eigentlich<br />
ist. Bedenkt man, dass die Ukraine in den heutigen Grenzen<br />
erst seit 1991 als unabhängiger Staat besteht, der die gewaltsamen<br />
und autoritären Exzesse Russlands vermieden und<br />
einen ersten Konflikt auf der Krim Mitte der neunziger Jahre<br />
entschärft hat, dann ist das ein Erfolg. Krisensituationen bieten<br />
auch Möglichkeiten für Reform. In der Ukraine gibt es nun<br />
die Chance einer Neugestaltung der Beziehungen zwischen<br />
dem Zentrum und den Regionen – mit oder ohne die Krim.<br />
Der Ausbau föderaler Elemente ist denkbar: Die bislang von<br />
Kiew ernannten regionalen Gouverneure könnten gewählt werden.<br />
Ironischerweise könnte ein dezentralisiertes oder föderales<br />
Staatsmodell die Ukraine intern stärken und sie vor weiteren<br />
russischen Interventionen schützen.<br />
GWENDOLYN SASSE unterrichtet an der Oxford University.<br />
Von der Politologin und Ukraine-Expertin erschien<br />
„The Crimea Question: Identity, Transition, and Conflict“.<br />
Sie weist auf die zentrale Rolle der Krim tataren hin und<br />
sieht in der gegen wärtigen Krise auch eine Chance<br />
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<strong>Cicero</strong> – 4. 2014