08.04.2014 Aufrufe

Cicero Judenfeind Luther (Vorschau)

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Die letzten 24 Stunden<br />

Mein Texas,<br />

mein Scotch<br />

und mein<br />

Schaukelstuhl<br />

ETHAN<br />

HAWKE<br />

Ethan Hawke<br />

Kritik und Publikum jubeln oft,<br />

wenn der Schauspieler seinen<br />

Studien der Männlichkeit neue<br />

Facetten abgewinnt, zuletzt in<br />

„Before Midnight“ und „Boyhood“,<br />

beides von Richard Linklater<br />

In den vergangenen drei Jahren<br />

wurde ich viermal für tot erklärt.<br />

Einmal saß ich am Steuer meines<br />

Autos, trank eine Cola und fuhr mit<br />

meinen Töchtern in den Urlaub, als<br />

im Radio ein kalifornischer Sender das<br />

Gerücht in die Welt setzte, ich hätte mir<br />

das Leben genommen. Ein anderes Mal<br />

berichtete eine kanadische Zeitung von<br />

einem tödlichen Sturz am Filmset. Angeblich<br />

hätte ich Kokain genommen und<br />

wäre derart im Rausch gewesen, dass ich<br />

mir beim Dreh einer Actionszene das<br />

Genick brach. Zuletzt sorgten zweimal<br />

wildgestreute Nachrichten bei Twitter<br />

dafür, dass sich mehrere Tausend Leute<br />

bemüßigt fühlten, meinen Namen mit<br />

den gut gemeinten Abschiedsworten<br />

Rest In Peace zu verlinken.<br />

Ich weiß nicht, was mir all dies sagen<br />

soll. Eigentlich musste ich darüber lachen.<br />

Dennoch war es jedes Mal ein seltsames<br />

Gefühl, die Nachricht des eigenen Todes<br />

zu lesen. Die Falschmeldungen sahen aus<br />

der Distanz betrachtet kaum anders aus<br />

als die einiger Freunde und Kollegen, die<br />

mich in meiner Karriere begleitet und irgendwann<br />

verlassen haben. Der erste, River<br />

Phoenix, war gerade 23 Jahre alt, als<br />

er eines Nachts auf dem Sunset Boulevard<br />

an einer Überdosis starb. Der letzte,<br />

Heath Ledger, war auch noch keine 30,<br />

als er völlig überraschend von uns ging.<br />

Ich bin jetzt mittlerweile über<br />

40 Jahre alt, und vielleicht ist es so, dass<br />

ich im Gegensatz zu den beiden die<br />

schwierigste und gefährlichste Phase in<br />

meinem Leben überstanden habe. Dies<br />

bedeutet jedoch nicht, dass es für mich<br />

keine Angst mehr vor dem Tod gibt –<br />

diese Angst ist nicht verschwunden. Es<br />

geht nun aber nicht mehr um mich selbst,<br />

sondern um meine vier Kinder, für die<br />

ich da sein will, solange es geht.<br />

Wenn ich also wüsste, mir blieben<br />

nur noch 24 Stunden auf dieser Welt,<br />

dann würde ich die Zeit mit ihnen verbringen<br />

und versuchen, ihnen so viel<br />

wie möglich mit auf den Weg zu geben.<br />

Damit meine ich keine elterlichen Ratschläge,<br />

die sie sowieso nicht hören wollen<br />

würden, sondern vielmehr Erinnerungen,<br />

an denen sie sich eines Tages<br />

festhalten können.<br />

Ich würde meine Kinder in ein Auto<br />

stecken und mit ihnen nach Texas fahren,<br />

wo ich geboren bin. Sie waren noch<br />

nie dort, und sie sollen wenigstens einmal<br />

in ihrem Leben die Farm sehen, auf<br />

der ich früher in den Schulferien immer<br />

meinen Onkel besucht habe. Es ist ein<br />

malerischer Ort, unweit von Austin, und<br />

doch mitten im Nirgendwo. Die Sonne<br />

würde uns ins Gesicht brennen, doch<br />

ich wäre der Einzige, der keine Schutzcreme<br />

tragen muss, denn bei mir käme<br />

es darauf nicht mehr an. Wir würden gemeinsam<br />

über die endlosen Felder laufen,<br />

ich würde mit meinen kleinen Töchtern<br />

in den mannshohen Maisplantagen<br />

Fangen spielen und würde meinen Sohn,<br />

der jetzt schon elf geworden ist, fragen,<br />

was er sich vom Leben erträumt.<br />

Erst am Abend, wenn meine letzten<br />

Stunden anbrechen, würden wir zurück<br />

zur Farm gehen. Ich würde mich in den<br />

quietschenden, alten Schaukelstuhl auf<br />

der Veranda setzen, meine Kinder im<br />

Arm. Weil ich nicht den Schmerz, sondern<br />

das Glück dieses Augenblicks schwer ertragen<br />

könnte, würde eine Flasche voll<br />

teurem irischen Scotch nicht schaden, um<br />

mich von sentimentalen Reden abzuhalten.<br />

Einfach nur die Kleinen um mich herum<br />

haben und leicht betäubt wegdämmern:<br />

Das wäre das schönste Ende, das<br />

ich mir vorstellen kann.<br />

Aufgezeichnet von CLAAS RELOTIUS<br />

145<br />

<strong>Cicero</strong> – 4. 2014

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!