Cicero Judenfeind Luther (Vorschau)
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Schilling: Gewiss nicht.<br />
Käßmann: Natürlich ist <strong>Luther</strong>s<br />
Schrift von 1543 über die „Juden und ihre<br />
Lügen“ furchtbar. 20 Jahre zuvor hatte er<br />
judenfreundlich argumentiert. Wir können<br />
uns von der Schuld nicht freisprechen,<br />
dass im Protestantismus ein starker Antijudaismus<br />
vorhanden war. Insofern gibt<br />
es eine Schuldgeschichte. Gott sei Dank<br />
gehört es aber zur Lerngeschichte, dass<br />
ein solcher Antijudaismus heute in der<br />
evangelischen Kirche undenkbar ist.<br />
Brandmüller: <strong>Luther</strong> war alles andere<br />
als ein kühler Intellektueller, eher<br />
ein Vulkan, der kilometerhoch Lava in<br />
die Luft schleuderte. Nicht nur gegen Juden,<br />
auch gegen den Papst hat er gewütet.<br />
Wenn es nach ihm gegangen wäre, würde<br />
ich als Kardinal mit einem Mühlstein um<br />
den Hals bei Ostia im Meer ersäuft sein.<br />
Ich nehme diese Ausbrüche nicht ernst.<br />
<strong>Luther</strong> sagte, er sei „dazu geboren, dass<br />
ich mit den Rotten und Teufeln muss<br />
kriegen und zu Felde liegen“. War er ein<br />
Choleriker vor dem Herrn?<br />
Schilling: Ich würde sein Verhalten<br />
vor dem Hintergrund der Zeit interpretieren.<br />
Die Abwehrhaltung gegen die jüdische<br />
Minderheit war damals nahezu Konsens.<br />
Fast tragisch ist es, dass <strong>Luther</strong> aus<br />
Sorge um sein Selbstbild als Prophet des<br />
wahren Wortes die Weigerung der Juden,<br />
sich taufen zu lassen, für ein Zeichen<br />
des Teufels hielt. Daraus lässt sich<br />
jedoch für Hitlers Antisemitismus nichts<br />
ableiten. Rassist war <strong>Luther</strong> gerade nicht.<br />
„<strong>Luther</strong> hat die<br />
Freiheit des<br />
Menschen in<br />
Glaubens- und<br />
Gewissensfragen<br />
selbst nicht<br />
respektiert“<br />
Margot Käßmann<br />
Sie schreiben aber von seinem „bedingungslosen<br />
Vernichtungswillen gegen<br />
Juden wie Türken“.<br />
Schilling: Er wollte beide aus den<br />
Territorien der christlichen Welt verbannen,<br />
aber nicht töten. <strong>Luther</strong> sah kurz<br />
vor seinem Tod in den Juden so etwas<br />
wie eine ansteckende Krankheit, durch<br />
die die Reinheit des Evangeliums getrübt<br />
und damit seine Reformation zunichte<br />
würde. Um eine Traditionslinie zu<br />
den Nationalsozialisten ziehen zu können,<br />
müsste der Beweis erbracht werden,<br />
dass die antijudaistischen Schriften flächendeckend<br />
in den Bibliotheken protestantischer<br />
Prediger gestanden haben.<br />
Dieser Beweis fehlt. Im Gegenteil: Hitler<br />
beschwerte sich, dass die Kirchen den<br />
Deutschen den wahren, den antisemitischen<br />
<strong>Luther</strong> vorenthalten hätten. Vorwerfen<br />
kann man dem deutschen Protestantismus<br />
hingegen, dass er, neudeutsch<br />
gesprochen, keine Firewall gegen den<br />
Antisemitismus errichtete. Die fatale<br />
Verknüpfung von nationalistisch-deutschem<br />
Bewusstsein und <strong>Luther</strong>tum hat<br />
das verhindert. Beim Katholizismus gab<br />
es das nicht.<br />
Damals gab es also keinen Schutzwall<br />
gegen den Antisemitismus. Heute,<br />
heißt es, sauge der Protestantismus den<br />
Zeitgeist auf. Die „Bibel in gerechter<br />
Sprache“ und die „Orientierungshilfe“<br />
zur Familie seien solche Sündenfälle.<br />
Käßmann: <strong>Luther</strong> nannte es den Beruf<br />
des Christen, das Wort mitten in der<br />
Welt zu ergreifen. Ich erkenne da keine<br />
Anpassung an den Zeitgeist.<br />
Günther Beckstein beklagt, es gebe<br />
kaum konservative Stimmen in der EKD.<br />
Käßmann: Das sehe ich nicht so.<br />
Herr Beckstein ist anderer Meinung, aber<br />
das hält der Protestantismus aus.<br />
Wenn, Frau Käßmann, das Wort der Bibel<br />
der Maßstab bleiben soll: Warum<br />
wird an diesem Wort herumgedoktert?<br />
Käßmann: Die evangelische Kirche<br />
doktert nicht. Es entsteht gerade eine behutsame<br />
Revision der <strong>Luther</strong>bibel, die bis<br />
2017 abgeschlossen sein wird. Die „Bibel<br />
in gerechter Sprache“ ist durch eine<br />
freie Gruppe aus Übersetzern und Exegeten<br />
entstanden. Sie wurde nie von der<br />
EKD autorisiert.<br />
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