Novemberpogrom - Österreich Journal
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ÖSTERREICH JOURNAL NR. 125 / 28. 11. 2013<br />
»75 Jahre <strong>Novemberpogrom</strong>«<br />
33<br />
Foto: DÖW<br />
Titelblatt des »Völkischen Beobachters« (Wiener Ausgabe), 13. 11. 1938 (Ausschnitt)<br />
Sammellager freizukommen. Als beide Frauen<br />
am Abend des 10. November 1938 in ihre<br />
Wohnung zurückkamen, fanden sie dort Dr.<br />
Markl und einige Nationalsozialisten vor,<br />
die gerade dabei waren, die Wohnung auszuräumen<br />
und Wäsche, Kleider und Einrichtungsgegenstände<br />
auf einen LKW zu verladen.<br />
Dr. Markl war höchst erstaunt, daß Frau<br />
Deutsch und ihre Tochter schon frei wären,<br />
und erklärte, er werde [das] überprüfen lassen.<br />
[…] Etwa um Mitternacht kam Dr.<br />
Markl in Begleitung eines zweiten Mannes<br />
neuerlich ins Haus der durch die vorangegangenen<br />
Ereignisse auf das Höchste eingeschüchterten<br />
Frauen. Er brachte geringe Reste<br />
des Silberbesteckes zurück und verlangte<br />
von Hedwig Deutsch die Ausstellung einer<br />
Bescheinigung, daß sie alles das, was bereits<br />
weggeführt worden war, und darüber hinaus<br />
noch ihren Schreibtisch, ein Pianino und<br />
eine Vitrine der NSDAP-Ortsgruppe Simmeringer-Heide<br />
geschenkweise überlasse. […]<br />
Am folgenden Tage (11. 11. 1938) erschien<br />
Dr. Markl zum vierten Male in der Wohnung<br />
[…] und veranlaßte den Abtransport […]“<br />
(Urteil des LG Wien als Volksgericht gegen<br />
Karl Markl und Otto Wiedermann, 7. 5. 1948)<br />
In mehreren Fällen verlieh Alkoholkonsum<br />
der bereits vorhandenen Gewaltbereitschaft<br />
eine zusätzliche Dynamik. So erfuhr<br />
der Leiter der NSDAP-Ortsgruppe Freihof<br />
(Wien-Kagran), Gustav Bartsch, im Wirtshaus<br />
von seinem Kreisleiter, daß „mit den<br />
Juden aufzuräumen sei“: „Bartsch hat diesen<br />
Befehl des Kreisleiters wörtlich genommen<br />
und da er und seine Mitarbeiter in der Ortsgruppe,<br />
nämlich die Angeklagten Schobermayer<br />
und Neubauer, an diesem Abend auch<br />
etwas alkoholisiert waren, faßte er den Plan,<br />
die in seinem Ortsgruppenbereich wohnhaften<br />
Juden noch in der Nacht aus ihren Wohnungen<br />
auszuheben und diese in Säcke zu<br />
packen und in die Donau zu werfen.“ Mit<br />
Lastkraftwagen und vorbereiteten Knebeln<br />
und Fesseln machte sich die Gruppe auf den<br />
Weg, stieß allerdings bei den ersten Opfern –<br />
dem Ehepaar Weiss, Nachbarn aus dem Schrebergarten<br />
– auf heftige Gegenwehr. Die Aktion<br />
wurde abgebrochen, zurück blieben<br />
Franziska und Max Weiss mit mehrfachen<br />
Kopfverletzungen. (Urteil des LG Wien als<br />
Volksgericht gegen Gustav Bartsch und andere,<br />
18. 6. 1947)<br />
Ernst Benedikt, ehemaliger Herausgeber<br />
und Chefredakteur der „Neuen Freien<br />
Presse“, wurde in Wien-Döbling festgenommen.<br />
War die Behandlung – wie auch Benedikt<br />
in einem 36seitigen Manuskript, das im<br />
Dokumentationsarchiv des österreichischen<br />
Widerstandes (DÖW) aufliegt, schildert und<br />
aus dem die nachfolgenden Zitate stammen –<br />
auf den Polizeikommissariaten noch „korrekt“<br />
(sprich: in der Regel nicht von Gewalt<br />
bestimmt), änderte sich das schlagartig mit<br />
der Überstellung in die Notarreste: „Die SS<br />
übernahm die Angelegenheit […] Und sofort<br />
meldete sich jener Begriff, der Begriff aller<br />
Begriffe – der Vorwand für tausendfachen<br />
Terror, ja identisch mit diesem selbst, nur ins<br />
Zeitliche übertragen – nämlich das Tempo.<br />
Tempo, das heißt: Du wirst wie ein Warenballen<br />
in einen dunklen Wagen geschleudert,<br />
der halbmannshoch und ohne Trittbrett dem<br />
Nichtturner und -kletterer, dem Älteren und<br />
Müden ein schwieriges Problem bedeutet.<br />
(Mir gelang es, mit einer mir heute kaum begreiflichen<br />
Raschheit, mich an einer Eisenkette<br />
hinaufzuhangeln, die von der Bedachung<br />
des Wagens herabhing.) Tempo, das war die<br />
schallende Ohrfeige, die auf die Wange des<br />
Menschen niedersauste, der auf meinem<br />
Schoß saß. Tempo, das war die zweite Ohrfeige,<br />
die der Arme mit gleicher Wucht auf<br />
seine andere Wange empfing, als er, begreiflicher<br />
Scham gehorchend, mit seiner Hand<br />
die getroffene Stelle berührte. Ich werde ihn<br />
nie sehen, diesen meinen Beschützer, und<br />
habe ihn nie gesehen und doch dank ich ihm,<br />
daß ich im Hintergrund sitzend nicht unmittelbar<br />
den beiden Bestien ausgeliefert war,<br />
die uns zu unbekanntem Ziele führten. Und<br />
wieder – beim Aussteigen – was spreche ich<br />
von Aussteigen? – beim Herausgepeitscht-,<br />
Herausgehetztwerden aus dem hohen Wagen<br />
ohne Stufen – Tempo, Tempo! – bewahrte<br />
mich irgendein guter Geist. Denn ich sprang<br />
nicht nur ohne zu fallen, ich rutschte auch –<br />
mir fällt kein anderer Ausdruck ein – blitzschnell<br />
an dem Kerl vorüber, der mir einen<br />
tüchtigen Fußtritt und eine Maulschelle<br />
zugedacht hatte, so daß er, halb bewundernd,<br />
halb ärgerlich in einem ihm rassisch fremden<br />
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