Novemberpogrom - Österreich Journal
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ÖSTERREICH JOURNAL NR. 125 / 28. 11. 2013<br />
»75 Jahre <strong>Novemberpogrom</strong>«<br />
37<br />
ten hat. Er berichtet wie folgt: „Von meinem<br />
Büro am Petersplatz aus konnte ich den<br />
Lieblingssport des Nazimobs beobachten:<br />
jüdische Männer und Frauen wurden gezwungen,<br />
auf allen Vieren kriechend, den<br />
Gehsteig mit scharfen Laugen zu waschen,<br />
die ihnen die Haut verbrannte (…)“<br />
„Arbeit für die Juden, endlich Arbeit für<br />
die Juden!“, heulte die Menge. „Wir danken<br />
dem Führer, er hat Arbeit für die Juden<br />
geschafft! …“<br />
Und Gedye berichtet weiter:<br />
„In einem hohen Gebäude befindet sich<br />
die Hauptsynagoge Wiens, ein Mittelpunkt<br />
der religiösen und karitativen Tätigkeit der<br />
Wiener Juden. Am frühen Morgen war das<br />
Gebäude von der SS besetzt worden. Dorthin<br />
pflegten die Ärmsten der armen Juden<br />
Wiens zu kommen, um in der Ausspeisung<br />
eine Suppe zu bekommen. (…)<br />
Sobald sie das Gebäude betreten hatten,<br />
wurden sie in die Synagoge geschleppt, wo<br />
SS-Leute herumlungerten (…) Die Juden<br />
wurden dort gezwungen, ,körperliche Übungen‘<br />
zu machen. Die Alten und Schwachen,<br />
die hinfielen oder zusammenbrachen, wurden<br />
von den Nazi auf brutalste Art mit Füßen<br />
getreten und geschlagen.<br />
Ich sah auch, wie man zur Belustigung<br />
der Menge Juden vorführte, die man gezwungen<br />
hatte, Gewänder anzuziehen, die<br />
die Rabbiner beim Gottesdienst trugen. So<br />
mußten sie die Straße von dem Schmutz reinigen,<br />
den grinsende SS-Leute aus den Fenstern<br />
warfen...“<br />
Meine sehr geehrten Damen und Herren!<br />
Was vor 75 Jahren im Herzen Wiens geschah,<br />
was sich Wienerinnen und Wiener in<br />
einer Hauptstadt abendländischer Kultur zu<br />
Schulden kommen ließen, ist eine Schande,<br />
die nicht vergessen werden kann und nicht<br />
vergessen werden darf.<br />
Das <strong>Novemberpogrom</strong> 1938 war aber<br />
kein singuläres Ereignis. Es hatte eine lange<br />
Vorgeschichte und es fand seine Fortsetzung<br />
in Verbrechen, die das <strong>Novemberpogrom</strong> in<br />
Bezug auf Unmenschlichkeit, in Bezug auf<br />
die Zahl der Opfer und in Bezug auf planmäßige,<br />
mörderische Entschlossenheit noch<br />
um ein Vielfaches übertrafen.<br />
Erst im März diesen Jahres haben wir des<br />
sogenannten Anschlusses <strong>Österreich</strong>s an das<br />
Deutsche Reich bei einer großen Gedenkveranstaltung<br />
im Redoutensaal der Wiener<br />
Hofburg gedacht und ich habe bei diesem<br />
Anlaß versucht die Entwicklungen, die dazu<br />
geführt hatten, zu skizzieren.<br />
Foto: HBF/Pusch<br />
Zusammentreffen von Bundespräsident Heinz Fischer (Mitte) und Verteidigungsminister<br />
Gerald Klug (r.) mit dem Präsidenten der Israeltischen Kultusgemeinde,<br />
Oskar Deutsch, vor dem Mahnmal auf dem Judenplatz im 1. Bezirk<br />
Sehr gehrte Damen und Herren!<br />
Die Ausschreitungen der Novembertage<br />
1938 waren auch nicht – wie in den nationalsozialistischen<br />
Medien dargestellt – Ausdruck<br />
spontanen Volkszorns über die Ermordung<br />
eines deutschen Diplomaten in Paris<br />
durch einen verzweifelten 17jährigen jüdischen<br />
Emigranten, sondern wurden von der<br />
NSDAP planmäßig und in Dutzenden deutschen<br />
Städten gleichzeitig vorbereitet und<br />
organisiert.<br />
SS-Einheiten wurden von der Leine gelassen,<br />
und die Gestapo führte die Aufsicht.<br />
Doch dieser Umstand befreit die Zivilgesellschaft<br />
nicht von ihrer Mitverantwortung:<br />
Die meisten Menschen in <strong>Österreich</strong><br />
wie in Deutschland schwiegen, schauten weg<br />
oder sympathisierten sogar mit den Tätern.<br />
Und es waren nur sehr, sehr wenige, die<br />
damals Menschlichkeit zeigten und den Mut<br />
aufbrachten, den Opfern Mitgefühl zu zeigen<br />
und in Einzelfällen sogar zu helfen.<br />
Meine Damen und Herren!<br />
Wenige Jahre nach diesen blutigen Pogromen<br />
vom November 1938, nämlich nach<br />
dem Ende des Zweiten Weltkrieges, stand<br />
fest, wie entsetzlich viele Opfer die Jahre der<br />
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft allein<br />
in <strong>Österreich</strong> gefordert hatten: 65.000<br />
jüdische Männer, Frauen und Kinder fielen<br />
dem Holocaust zum Opfer – die Erinnerung<br />
an sie wird hier im Stadttempel im Sinne des<br />
„Zachor!“ – „Erinnere Dich!“ – wach gehalten.<br />
Weitere 130.000 Menschen wurden vertrieben<br />
– sie mußten Heimat, Familien und<br />
»<strong>Österreich</strong> <strong>Journal</strong>« – http://www.oesterreichjournal.at<br />
Freunde, ihr ganzes bisheriges Leben zurücklassen,<br />
um in der Fremde als Flüchtlinge<br />
zu leben. Für viele war es ein Abschied für<br />
immer.<br />
Gleichzeitig war eine reiche Kultur versunken,<br />
die ein ganz wichtiger Teil der österreichischen<br />
Kultur und der Europäischen<br />
Kultur war und ist.<br />
Meine Damen und Herren!<br />
In den ersten Jahrzehnten nach dem Ende<br />
des Nationalsozialismus hat sich <strong>Österreich</strong><br />
seiner Verantwortung nur sehr zögerlich<br />
gestellt – teilweise sogar gänzlich entzogen.<br />
Allzu lange wurde auch der noch aus der<br />
NS-Zeit stammende, verharmlosende Begriff<br />
der sogenannten Reichskristallnacht für die<br />
Novemberprogrome verwendet.<br />
Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten<br />
konnte sich – im Zuge eines nicht immer<br />
einfachen Prozesses der Bewusstmachung –<br />
das klare Bekenntnis zur Mitverantwortung<br />
von <strong>Österreich</strong>erinnen und <strong>Österreich</strong>ern für<br />
das nationalsozialistische Unrecht durchsetzen.<br />
Wenn wir im März und im November des<br />
Jahres 2013 ganz besonders dunkler Stunden<br />
der österreichischen Vergangenheit gedenken<br />
und dabei auf Ereignisse vor 75 Jahren<br />
zurückblicken, so tun wir dies im Bewußtsein<br />
der Verpflichtung, sich zu erinnern und<br />
aus der Vergangenheit zu lernen.<br />
Nehmen wir den heutigen Gedenktag<br />
zum Anlaß, uns vor den Opfern des <strong>Novemberpogrom</strong>s<br />
vor 75 Jahren gemeinsam zu verneigen<br />
und ihrer zu gedenken. •