Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte - Institut für Zeitgeschichte
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162 Ferdinand A. Hermens<br />
ergriffen worden waren, die Unzufriedenheit stieg. Kommunistische Agitation hatte<br />
daran ihren Anteil, aber soziologisch gesehen war diese Entwicklung insofern natürlich,<br />
als eine völlig unterdrückte Schicht im allgemeinen zu dumpf ist, um aktive<br />
Unzufriedenheit auszudrücken, während sich soziale Unruhe sofort entwickelt,<br />
wenn die ersten Anzeichen der Besserung auftreten; im Grunde stellt diese Unruhe<br />
eines der Merkmale der Besserung dar. Eine solche psychologische Entwicklung ist<br />
dem ähnlich, was sich in manchen Gemeinden, in denen mit der Agrarreform verbundene<br />
öffentliche Arbeiten ausgeführt wurden, in bezug auf die Arbeitslosenziffer<br />
ergab: Die Zahl der gemeldeten Arbeitslosen ging nicht nach unten, sondern<br />
nach oben. Vorher hatte man die Arbeitslosigkeit als eine Naturgegebenheit hingenommen;<br />
sobald es sich ergab, daß Arbeit zu Enden war, ließen sich viele eintragen,<br />
die früher nie an Arbeit außerhalb der Landwirtschaft gedacht hatten.<br />
Es könnte scheinen, daß diese relativ optimistische Einschätzung der Lage mit<br />
dem umfangreichen Material in Widerspruch stehe, das während der im Sommer<br />
1953 zu Ende gegangenen ersten Legislaturperiode der italienischen Republik von<br />
den beiden parlamentarischen Kommissionen zusammengetragen wurde, die sich<br />
mit der Arbeitslosigkeit und mit dem Elend befaßten. Beide wurden von sachkundigen<br />
Politikern geleitet, und ihre Veröffentlichungen werden allgemein als objektiv<br />
anerkannt. Zunächst ist jedoch wiederum der bloße Umstand, daß man sich mit<br />
dem Elend breiter Kreise so ausgiebig befaßte, ein Zeichen der Besserung; früher<br />
hielt man das Elend <strong>für</strong> naturgegeben und nur durch karitative Hilfe zu bessern -<br />
heute rollt man das Problem in seiner ganzen Breite auf, dadurch zum Ausdruck<br />
bringend, daß man es als nationalen Makel empfindet, zu dessen Beseitigung alle<br />
Mittel eingesetzt werden müssen. Trotzdem erregen die von den Untersuchungen<br />
zutage geförderten Zahlen Bedenken; zwei Millionen Arbeitslose und zwei Millionen<br />
Unterbeschäftigte sind viel <strong>für</strong> ein Land, wo sie je etwa zehn Prozent der Erwerbstätigen<br />
darstellen. Die unmittelbaren Gründe <strong>für</strong> diesen Beschäftigungsmangel<br />
ergeben sich aus dem Zusammenwirken zweier Faktoren: den Beschränkungen,<br />
denen sich die italienische Auswanderung seit 1921 gegenübersah, und dem jährlichen<br />
Zuwachs an Arbeitsuchenden. Mit Recht ist jedoch hervorgehoben worden,<br />
daß schließlich und letztlich ein dritter Faktor über das Maß der Beschäftigung<br />
entscheidet: die Entwicklung der Industrie, die sich, wegen der verringerten Transportkosten<br />
und der Entwicklung synthetischer Produkte, gerade heute mehr und<br />
mehr über natürliche Gegebenheiten und den durch sie in Italien bedingten<br />
Mangel an einheimischen Rohmaterialien hinwegsetzt 6 . Was das statistische Bild<br />
im einzelnen angeht, so stehen sich relativer Optimismus und relativer Pessimismus<br />
gegenüber. Von Seiten der Regierung wurde jüngst betont, daß sich von<br />
1952 auf 1953 die Gesamtzahl der außerhalb der Landwirtschaft Beschäftigten<br />
um 275000 vermehrte, während die Zunahme der Arbeitsuchenden nur 180000<br />
betrug; es wurden also nicht nur genug Arbeitsplätze neu geschaffen, um einer<br />
6 The Enquiry Into Unemployment, Italian Economic Survey, September—Oktober<br />
1955.