Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte - Institut für Zeitgeschichte
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170 Ferdinand A. Hermens<br />
war das die Aufgabe der neugewählten Kammer, aber man hatte nicht damit gerechnet,<br />
daß die Zusammensetzung der Kammer als ganzer in Frage stehen würde,<br />
statt der Gültigkeit der Wahl einzelner Abgeordneter, wie das bisher der Fall gewesen<br />
war. Im Kabinett widersprach jedoch Fanfani dem Vorschlage Scelbas, da<br />
man den Bogen nicht überspannen dürfe und sich immerhin eine, wenn auch<br />
knappe Mehrheit der Mitte ergeben habe. —<br />
Diese Mehrheit bedeutete jedoch zunächst einen grundsätzlichen Wandel gegenüber<br />
den Verhältnissen, die zwischen 1948 und 1953 bestanden hatten. Mit De<br />
Gasperis unerwartetem Sieg von 1948 hatte der italienische Parlamentarismus sich<br />
— wenn auch mit Abstand — dem angenähert, was <strong>für</strong> den reifen englischen Parlamentarismus<br />
charakteristisch ist, nämlich der Verbindung zwischen dem plebiszitär-demokratischen<br />
und dem parlamentarischen Prinzip. In England hatte die nach<br />
der zweiten Wahlreform erfolgte Gründung der Massenparteien die Folge, daß <strong>für</strong><br />
den Durchschnittswähler, der <strong>für</strong> die komplizierten Meinungsverschiedenheiten der<br />
politischen Elite wenig Sinn hat, die Wahl seines Abgeordneten zugleich die Wahl<br />
des Ministerpräsidenten bedeutete. In Kontinentaleuropa hat normalerweise keine<br />
Partei eine Parlamentsmehrheit, und deswegen entscheidet in der Theorie das Parlament<br />
selbst und in der Praxis die Oligarchie der koalitionsfähigen Parteien über<br />
die Regierungsbildung. So wenig demokratisch dieser Prozeß ist, und so schwach die<br />
Regierung sein mag, die aus ihm hervorgeht, so ist doch dieses System bei den Parlamentariern<br />
beliebt. Es besteht ja dann <strong>für</strong> ein oder zwei Dutzend der Parlamentsmitglieder<br />
die Gelegenheit, Ministerpräsident zu werden und — wenn man die<br />
französische Erfahrung zugrunde legen darf — <strong>für</strong> mehrere hundert ihrer Kollegen<br />
die Chance, einen Ministersessel zu erringen.<br />
Für die kleineren Parteien enthielt weiterhin das Wahlresultat einen Stachel, der<br />
sie weniger denn je geneigt machte, die Zusammenarbeit mit den Christlichen<br />
Demokraten als eine Selbstverständlichkeit zu betrachten. Die Christlichen Demo<br />
erwähnten. Die Kommunisten erkannten, daß sich ihnen hier eine unerhoffte taktische Gelegenheit<br />
bot. Ihre Kandidaten betonten diesesmal mit Nachdruck die Liste, und fügten, insbesondere<br />
in Gegenden mit beträchtlichem Analphabetismus, hinzu, daß es auf die Wahl der<br />
individuellen Kandidaten nicht ankomme.<br />
Nun konnten die Wähler in Wahlkreisen bis zu 15 Sitzen drei Vorzugsstimmen abgeben,<br />
und in denen mit 16 und mehr vier. Im Landesdurchschnitt wurden 30,1 Prozent der möglichen<br />
Vorzugsstimmen abgegeben. Für die Christlichen Demokraten war der Prozentsatz<br />
35,2 Prozent, <strong>für</strong> die Kommunisten 29,2 und <strong>für</strong> die Linkssozialisten 18,6. Christlich-demokratische<br />
Wähler gaben dabei oft ihre Vorzugsstimmen ab, ohne die Liste als Ganzes anzumerken.<br />
Es wird geschätzt, daß von den 402 482 aus diesem Grunde <strong>für</strong> ungültig erklärten<br />
Stimmen mindestens 200000 <strong>für</strong> die Christlichen Demokraten bestimmt waren. Fernerhin<br />
wurden 335100 Stimmen <strong>für</strong> ungültig erklärt, weil die Wähler mehr als eine Liste angemerkt<br />
hatten. Das hatten die Wähler der miteinander verbundenen Mittelparteien häufig in der<br />
Annahme getan, daß sie nicht nur <strong>für</strong> ihre eigene Partei, sondern auch <strong>für</strong> deren Verbündete<br />
stimmen müßten. Zählt man die Stimmen zusammen, die offenbar <strong>für</strong> die Mittelparteien<br />
bestimmt waren, aber ihnen aus den erwähnten Gründen nicht zugute kamen, so ist man<br />
nicht weit von einer halben Million entfernt; ein Zuwachs von wenig mehr als 110000 Stimmen<br />
hätte die Mitte in den Genuß der Mehrheitsprämie gebracht.