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Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte - Institut für Zeitgeschichte

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172 Ferdinand A. Hermens<br />

arbeitet, der in der Mitte zwischen den Systemen von 1946 und 1948 liegt. Das Ziel<br />

war, den bestehenden kleineren Parteien einen Prozentsatz der Sitze zu sichern, der<br />

ihrem Prozentsatz der Stimmen entspricht, ohne daß dadurch neue Splitterparteien<br />

ermöglicht würden. Diese scheinbare Quadratur des Zirkels scheint gelungen zu<br />

sein. Neue Parteien müssen, um Sitze auf Landesebene zu erhalten, entweder<br />

500000, d. h. etwa 2 Prozent der insgesamt abgegebenen Stimmen, oder ein Mandat<br />

in einem der 30 Proporzwahlkreise erzielt haben. Es zeigte sich erneut, daß, was<br />

die technischen Einzelheiten der Wahlrechtsgesetzgebung angeht, es den Italienern<br />

nicht an Geschicklichkeit fehlt.<br />

Und doch stellt sich nun die Zukunftsfrage der italienischen Demokratie mit unerbittlicher<br />

Schärfe. Das Land ist seit dem 7. Juni 1953 einer schleichenden Krise<br />

anheimgefallen. Es wird von einer Koalition von Parteien regiert, zwischen denen<br />

all die Gegensätze bestehen, die man etwa in dem demokratischen Parteisystem<br />

Englands und der Vereinigten Staaten auf beide große Parteien verteilt findet. In<br />

den angelsächsischen Ländern regieren die führenden Parteien abwechselnd, aber<br />

in Italien müssen all diese Gegensätze innerhalb derselben Regierung ausgetragen<br />

werden. Das bedeutet Lähmung nach innen und Vertrauensverlust nach außen.<br />

Dieser Vertrauensverlust ist die bedenklichste Folge der Wahlen. Wie der „Corriere<br />

della Sera" es in einem bemerkenswerten Leitartikel formulierte: „Seit dem<br />

7. Juni hat das Land sein Vertrauen nicht nur in die Parteien, sondern in den Staat<br />

verloren . . . Können wir dem Morgen vertrauen? Falls schwierige Tage kommen,<br />

können wir auf den Staat zählen? Wird es eine Regierung geben, die fähig ist, der<br />

Flut zu begegnen, die sich von verschiedenen Seiten her ankündigt? Wir sind bereit,<br />

unsere Pflicht zu erfüllen, aber gibt es jemand, gibt es etwas, das, was immer die<br />

Situation sein mag, es verstehen wird, die gesunden Kräfte des Landes zu ermutigen,<br />

sie zu stärken, zu disziplinieren, sie so zu organisieren, daß sie diesen Gefahren<br />

siegreich, im Rahmen der Freiheit und mit den orthodoxen Methoden der Demokratie<br />

... zu begegnen vermag 18 ?"<br />

Der „Corriere della Sera" hatte die durch den Montesi-Skandal geschaffene Stimmung<br />

im Auge. Ein junges Mädchen war tot am Strand von Ostia aufgefunden<br />

worden, und der offizielle Polizeibericht sprach von Selbstmord. Später wurde die<br />

Anklage erhoben, daß es sich um einen nach einer Rauschgiftsitzung verübten<br />

Mord handle, und daran der Sohn des damaligen christlich-demokratischen Außenministers<br />

Piccioni beteiligt gewesen sei. Es entstand der von der Presse der Rechten<br />

und Linken eifrig geschürte, aber auch von vielen anderen geteilte Eindruck, daß<br />

die Polizei versucht habe, ein offenbares Verbrechen zu vertuschen. Wenn nun<br />

innerhalb einer Demokratie mit Sicherheitsventil so etwas vorkommt, so bedeutet<br />

der etwaige Erfolg einer solchen Agitation, daß die belastete Partei abtritt und<br />

durch die unbelastete ersetzt wird, wobei die Einrichtungen der Demokratie als<br />

solcher unberührt bleiben. In einer Demokratie ohne Sicherheitsventil bedeutet<br />

eine Niederlage der demokratischen Parteien das Ende der Demokratie. Es gibt in<br />

18 Un Po di Coraggio, II Nuovo Corriere della Sera, 14. März 1954.

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