Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte - Institut für Zeitgeschichte
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Demokratie ohne Sicherheitsventil 163<br />
der Zahl der neu ins Erwerbsleben tretenden Jugendlichen entsprechenden Zahl<br />
Arbeitsuchender Beschäftigung zu geben, sondern auch netto nahezu 100000 bisher<br />
Arbeitslose unterzubringen. Ist das eine zutreffende Schilderung der Tatsachen<br />
und setzt sich diese Entwicklung fort, so ist im Verlauf des nächsten Jahrzehnts<br />
mit einem Rückgang der Arbeitslosigkeit zu rechnen, der deswegen vom<br />
Quantitativen ins Qualitative umschlagen muß, weil die italienische Geburtenziffer<br />
heute mit 17,5 pro Tausend der Bevölkerung (1953) eine der niedrigsten<br />
in der Welt ist. Es wird allerdings etwa zehn Jahre dauern, bis die zahlenmäßig<br />
so stark reduzierten Jahrgänge in das Erwerbsleben eintreten und das Bild entscheidend<br />
beeinflussen.<br />
Wie immer man nun das in Italien zwischen 1948 und 1953 auf dem Gebiet<br />
der Wirtschafts- und Sozialpolitik Getane und Begonnene beurteilen mag: Es sollte<br />
feststehen, daß es nicht der Grund <strong>für</strong> die in den Wahlen von 1953 zutage getretene<br />
Schwächung der Mittelparteien sein kann. Wenn vielerorts trotzdem die<br />
Auffassung vertreten wird, daß dem so sei, so kann dahinter nur die Annahme<br />
stehen, daß es so sein müsse: Wir haben es hier mit einer Manifestation dessen<br />
zu tun, was Lenin in seiner um die Jahrhundertwende entstandenen Schrift „Was<br />
tun?" als „Ökonomismus" bezeichnete. Er wandte sich spezifisch gegen jene Vertreter<br />
der russischen Linken, welche die sozialen Probleme ihres Landes ausschließlich<br />
auf dem Wege einer wirtschaftlichen Besserung der Arbeiterschaft zu lösen<br />
suchten. Lenin schrieb seinen Gegnern mit der ihm eigenen beißenden Ironie ins-<br />
Stammbuch, daß es so etwas wie einen Primat des Politischen gebe 7 , Politik von<br />
politischen Parteien gemacht werde, und daß diese eine klare Zielsetzung und eine<br />
straffe Führung brauchten.<br />
Soweit die Auffassung von Lenin berechtigt ist, könnte man sie dahin umformulieren,<br />
daß die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse eines Landes im<br />
Rahmen einer politischen Ordnung stehen, durch die ihre Auswirkungen und in<br />
gewissen Fällen sogar ihre Natur 8 bedingt sind. Es gibt nun eine politische Ord-<br />
7 Lenin gebrauchte zwar nicht diesen Ausdruck, hatte jedoch die Sache klar im Auge.<br />
Auch sind folgende Sätze aus einer im Jahre 1934 stattgefundenen Unterhaltung zwischen<br />
Stalin und H. G. Wells, in welcher Stalin ganz im Sinne Lenins sprach, interessant: Wells<br />
sagte zu Stalin: „Vielleicht glaube ich stärker an die ökonomische Gesellschaftsauffassung,<br />
als Sie es tun." Stalin antwortete: „Können wir übrigens die Tatsache übersehen, daß wir,<br />
um die Welt umzuformen, politische Macht haben müssen? Es scheint mir, Herr Wells,<br />
daß Sie die Frage der politischen Macht unterschätzen, daß sie völlig aus Ihrer Auffassung<br />
herausfällt." Siehe: Stalin-Wells Talk, The Verbatim Report of a Discussion by G. B. Shaw,<br />
The New Statesman and Nation, London 1934, S. 7 und 11.<br />
8 Die besten Beispiele sind die Länder, die theoretisch die ökonomische Geschichtsauffassung<br />
zur Grundlage ihrer Politik gemacht haben, insbesondere das kommunistische Rußland<br />
und China. In beiden Fällen wartete man nicht, bis eine spontane Änderung der wirtschaftlichen<br />
Verhältnisse die Grundlage <strong>für</strong> eine „Diktatur des Proletariats" schaffte; man eroberte<br />
die Macht mit einer von Intellektuellen geführten und direkt und indirekt von Bauern<br />
unterstützten politischen Partei; nachdem diese die politische Macht auf dem Wege der<br />
Gewalt errungen hatte, ging man daran, Wirtschaft und Gesellschaft fundamental umzuwandeln.