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Berliner Kurier 04.11.2018

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20 JOURNAL<br />

BERLINER KURIER, Sonntag, 4. November 2018<br />

„Eslebe die<br />

deutsche Republik!“<br />

Philipp Scheidemann<br />

hält am 9. November<br />

vomWestbalkon des<br />

Reichstags eine Rede,<br />

die Geschichte schreibt.<br />

Die Frage der Staatsform<br />

wollte Ebert der Verfassungsgebenden<br />

Nationalversammlung<br />

überlassen, aber „Scheidemann<br />

hatte ein sicheres Gespür<br />

dafür, daß der Tropfen monarchischen<br />

Öls, mit dem Prinz<br />

Max von Baden den sozialdemokratischen<br />

Parteiführer gesalbt<br />

hatte, vielleicht die Militärs<br />

und höheren Beamten,<br />

nicht jedoch die breiten Massen<br />

beeindrucken konnte“<br />

(Heinrich August Winkler:<br />

Weimar).<br />

Dircksenstraße, Polizeipräsidium,<br />

14.30 Uhr. Polizeipräsident<br />

Heinrich von Oppen<br />

übergibt sein Haus den Aufständischen<br />

und tritt zurück.<br />

Der USPD-Politiker Emil<br />

Eichhorn tritt Oppens Nachfolge<br />

an. Als „Volkskommissar für<br />

das Polizeiwesen“ ruft er die<br />

Bevölkerung dazu auf, „den<br />

Weisungen der Beauftragten<br />

des Arbeiter- und Soldatenrates“<br />

zu folgen und den „ruhigen<br />

Verlauf der Bewegung“ nicht<br />

durch „zwecklose Ansammlungen“<br />

zu stören.<br />

Es lebe die<br />

Republik!<br />

Aber welche?<br />

Schloßplatz, 16 Uhr. Tausende<br />

Menschen haben sich vor<br />

dem Schloss versammelt. Karl<br />

Liebknecht tritt auf den Balkon<br />

über dem Portal IV; er proklamiert<br />

„die freie sozialistische<br />

Republik Deutschland“ und beschwört<br />

die bevorstehende<br />

Weltrevolution. Am Mast der<br />

Kaiserstandarte wird die rote<br />

Fahne gehisst.<br />

Unabhängige und Spartakisten<br />

ahnen, dass Liebknechts<br />

Auftritt, zwei Stunden nach<br />

Scheidemanns Spontanrede, zu<br />

spät gekommen ist. Die SPD hat<br />

ihnen das Heft des Handels aus<br />

der Hand genommen, „weil wir<br />

uns genierten, für uns im voraus<br />

Machtbefugnisse in Anspruch<br />

zu nehmen“, schreibt<br />

später Georg Ledebour. Er war<br />

Mitbegründer der USPD, Vorstandsmitglied<br />

und Revolutionärer<br />

Obmann. „Dadurch, dass<br />

wir diese Unterlassungssünde<br />

begingen, haben wir Ebert und<br />

Scheidemann, die derartige<br />

Skrupel nicht hatten, die Möglichkeit<br />

gegeben, sich in die Revolutionserfolge<br />

hineinzuschmuggeln.“<br />

Hätte die Mehrheit der Arbeiter<br />

und Soldaten eine sozialistische<br />

Republik gewollt, wäre<br />

dieses Hineinschmuggeln<br />

kaum möglich gewesen. Die<br />

Linkssozialisten und -radikalen<br />

„konnten schwerlich hoffen,<br />

den Einfluss auf die Massen des<br />

deutschen Proletariats innerhalb<br />

absehbarer Zeit zu gewinnen“<br />

(Mommsen: Die verspielte<br />

Freiheit). Abgesehen davon<br />

hätten die Siegermächte ein<br />

Sowjetdeutschland nicht akzeptiert.<br />

Spa, Villa La Fraineuse,<br />

16.45 Uhr. Hindenburg<br />

rät Seiner<br />

Majestät dringend<br />

zum Exil in<br />

den neutralen<br />

Niederlanden.<br />

Berlin, Königsplatz,<br />

Reichstag, 17 Uhr. Vor<br />

dem Hauptportal harrt eine abwartende<br />

Menschenmenge, innen<br />

herrscht buntes Treiben:<br />

„Soldaten ohne Kokarden, Matrosen<br />

mit umgehängten Karabinern,<br />

Frauen, alle mit roten<br />

Schleifen, dazwischen Abgeordnete,<br />

um die sich kleine<br />

Gruppen bilden“ (Harry Graf<br />

Kessler: Tagebücher).<br />

Hindenburg<br />

drängtden Kaiser<br />

ins Exil<br />

Zimmerstraße. Hermann<br />

Duncker, Mitglied der Spartakusgruppe,<br />

dringt mit Soldaten<br />

in die Redaktion des „<strong>Berliner</strong><br />

Lokal-Anzeigers“<br />

ein. Die<br />

erste Abendausgabe<br />

des Blattes<br />

erscheint mit<br />

den Forderungen<br />

der Spartakusgruppe;<br />

die zweite Abendausgabe<br />

folgt als „Die Rote Fahne.<br />

Ehemaliger <strong>Berliner</strong> Lokal-<br />

Anzeiger“ mit der Überschrift<br />

„Berlin unter der roten Fahne“.<br />

Spa, Villa La Fraineuse,<br />

17.30 Uhr. Wilhelm II. teilt seinem<br />

Flügeladjutanten mit: „Ich<br />

bleibe zunächst in Spa. Falls<br />

wir von Bolschewisten angegriffen<br />

werden und meine hiesigen<br />

Sicherungstruppen nicht<br />

treu bleiben, fahren wir nach<br />

Den Haag.“<br />

Berlin, Innenstadt, 18 Uhr.<br />

Aufständische kontrollieren<br />

die Eingänge zu allen Staatsgebäuden;<br />

sie gewähren Zutritt<br />

nur Personen mit eigens dafür<br />

gefertigten Papieren.<br />

Zigtausende Menschen bevölkern<br />

Plätze, wildfremde Menschen<br />

fallen sich um den Hals.<br />

Es fallen vereinzelt Schüsse.<br />

Spa (Belgien), Hotel Britannique,<br />

18 Uhr. Hans von Plessen,<br />

Kommandant des Hauptquartiers,<br />

erhält Meldung von<br />

Hindenburg: Die OHL sehe<br />

sich außerstande, für die Sicherheit<br />

des Kaisers zu bürgen.<br />

Plessen erfährt auf Nachfrage,<br />

„ein Trupp bolschewistisch<br />

verseuchter Aufrührer“ werde<br />

sich eventuell noch in der<br />

Nacht von Aachen aus nach Spa<br />

begeben.<br />

Hindenburg hat ganz bewusst<br />

Falschmeldung gemacht.<br />

Berlin, Königsplatz, Reichstag,<br />

18.30 Uhr. Eine Delegation<br />

der SPD erscheint im Fraktionszimmer<br />

der USPD; sie bietet<br />

den Unabhängigen an, sich an<br />

einer Regierung unter Ebert zu<br />

beteiligen. Die USPD stellt Bedingungen,<br />

unter maßgeblichem<br />

Einfluss Liebknechts:<br />

Deutschland sozialistische Republik,<br />

alle Macht bei den Arbeiter-<br />

und Soldatenräten, Ent-

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