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10 * <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 25 · M ittwoch, 3 0. Januar 2019<br />
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Berlin<br />
Schlafsäcke, Zelte, Einkaufswagen: Das Camp an der Rummelsburger Bucht darf bis Ende April bleiben. Im besten Falle –sohoffen Politiker und Sozialarbeiter –haben die jungen Obdachlosen bis dahin eine feste Bleibe gefunden.<br />
Das Experiment<br />
An der Rummelsburger Bucht leben Obdachlose in Zelten. Sozialarbeiter betreuen die Bewohner jeden Tag. Die Stadt räumt das Lager nicht, sondern duldet es<br />
VonStefan Strauß (Text) und<br />
Markus Wächter (Fotos)<br />
Thermoskannen mit heißem<br />
Kaffee stehen auf dem<br />
Tisch, im Beutel liegen frische<br />
Croissants. Esist vormittags<br />
gegen elf Uhr, und langsam<br />
kommt Bewegung in das Obdachlosencamp<br />
an der Rummelsburger<br />
Bucht. Im Pavillon, dem zentralen<br />
Treffpunkt der Bewohner im Camp,<br />
rührt ein junger Mann noch verschlafen<br />
in seinem Becher.ImCamp<br />
nennen sie ihn Schwan: Er ist Punk,<br />
trägt eine schwarze Lederjacke und<br />
Schnürstiefel, er hat grün gefärbte<br />
Haare, Ringe und Stecker im Gesicht.<br />
Der junge Mann ist obdachlos,<br />
doch viel darüber reden will er nicht<br />
an diesem Morgen. Die Nacht habe<br />
er mit seiner Freundin in einem kleinen<br />
Zelt verbracht, sagt er. Umsich<br />
vor der Kälte zu schützen, hat er auf<br />
drei Isomatten und in zwei Schlafsäcken<br />
gelegen, hat sich zwei Paar Socken<br />
angezogen, eine Thermo-Unterhose<br />
und zwei Pullover. Er habe<br />
nicht gefroren, sagt er.<br />
DasCamp ist ein Sonderfall<br />
Seit drei Wochen betreuen Sozialarbeiter<br />
vonKaruna, einer Einrichtung<br />
für Kinder und Jugendliche in Not,<br />
die Bewohner im Camp. Sie bringen<br />
ihnen Frühstück und Kohlen für den<br />
kleinen Ofen im Gemeinschaftszelt.<br />
Es ist der einzig warme Ort. Mehrere<br />
Stunden sind die Sozialarbeiter im<br />
Camp, reden mit den etwa 15 meist<br />
jungen Bewohnern und bieten ihnen<br />
Hilfe an. Schwan, der Punk, sagt,<br />
er sei froh, dass es diese Hilfe gebe.<br />
„Ich bin den Leuten echt dankbar<br />
dafür.“ Dann muss er los, zum Duschen<br />
in eine Einrichtung für Straßenkinder<br />
und später zum Schnorren<br />
auf der Straße. Abends wird er<br />
zurückkommen. Und wieder eine<br />
Nacht im Zelt schlafen.<br />
DasLager am Ufer der Rummelsburger<br />
Bucht, gleich in der Nähe des<br />
Ostkreuzes,ist keine offizielle Unterkunft<br />
für Obdachlose. ImDezember<br />
vergangenen Jahres sollte das Camp<br />
geräumt werden, juristisch war die<br />
Angelegenheit geklärt. Die Obdachlosen<br />
lebten dortinunwürdigen Zuständen,<br />
unter Planen und im Müll.<br />
Doch dann haben SozialsenatorinElke<br />
Breitenbach und der Bürgermeister<br />
von Lichtenberg Michael<br />
Grunst, beide gehören zur Linkspartei,<br />
entschieden, das Camp vorerst<br />
zu dulden, mitten im Winter wollten<br />
sie es nicht räumen. Es gab eine Besprechung<br />
mit 40 Leuten. Polizei<br />
und Ordnungsamt waren dabei, Mitarbeiter<br />
der Senatssozialverwaltung<br />
und vonKaruna. Räumung sei keine<br />
Lösung, sagte Senatorin Breitenbach.<br />
Und wenn Sozialarbeiter von<br />
Karuna die Bewohner jeden Tagbesuchen<br />
und mit ihnen nach individuellen<br />
Wegen aus der Obdachlosigkeit<br />
suchen, sei das doch der bessere<br />
und erfolgreichereWeg.<br />
BisEnde Aprildürfen die Bewohner<br />
nun in dem Camp bleiben. Dann<br />
werden sie es freiwillig verlassen –so<br />
lautet jedenfalls die Absprache. Im<br />
besten Falle, sohoffen Politiker und<br />
Sozialarbeiter,haben die jungen Obdachlosen<br />
dann eine feste Bleibe gefunden,<br />
sei es eine eigene Wohnung<br />
oder einen Platz in einer sozialen<br />
Einrichtung.<br />
Das Camp ist ein Sonderfall, ein<br />
politisches Experiment der Stadtregierung,<br />
die sich damit deutlich abgrenzt<br />
vom rabiaten Umgang mit<br />
Obdachlosen, wie ihn der Bezirksbürgermeister<br />
von Mitte, Stephan<br />
von Dassel, praktiziert. Vor einigen<br />
Tagen hat der Grünen-Politiker ein<br />
Obdachlosencamp in der Nähe des<br />
Hauptbahnhofes räumen lassen. Polizei<br />
und Stadtreinigung hatte er um<br />
Hilfe gebeten, aber keine Sozialarbeiter.<br />
Wegen der Räumung gab es<br />
viel Kritik an von Dassel und eine<br />
heftige Debatte, auch deshalb, weil<br />
Polizisten einer obdachlosen Frau<br />
ein Tuch über den Kopf gelegt und<br />
sie abgeführt hatten. Aus Selbstschutz,<br />
hieß es bei der Polizei, denn<br />
die Frau habe die Beamten angespukt<br />
und zudem Läuse gehabt.<br />
In der Rummelsburger Bucht wissen<br />
die Bewohner, dass sie sicher<br />
sind. Helfen statt räumen –solautet<br />
dort die Devise. Esgibt zur Zeit kein<br />
anderes Obdachlosenprojekt dieser<br />
Artinder Stadt.<br />
Lutz Müller-Bohlen stapft mit<br />
hochgezogenen Schulterndurch das<br />
Zeltlager. Esist kalt, obwohl an diesem<br />
Vormittag die Sonne scheint<br />
und das Wasser in der Bucht glitzern<br />
lässt. Der Boden ist matschig und<br />
Lutz Müller-Bohlen ist erkältet. Seit<br />
dreiWochen ist der 57-jährige Sozialarbeiter<br />
von Karuna mit zwei Kollegen<br />
jeden TagmehrereStunden lang<br />
im Camp. Erkennt die Bewohner,<br />
manche haben ihm ihre Lebensgeschichte<br />
erzählt, einigen konnte er<br />
helfen. „Wir haben hier eine ideale<br />
Situation zum Arbeiten, und wir bekommen<br />
jede Unterstützung, die wir<br />
„Wir erzählen den Bewohnern nicht,<br />
wie das Leben funktioniert. Wir lassen<br />
uns auf ihre Situation ein, und wir<br />
brauchen viel Zeit, bis sie uns vertrauen<br />
und wir ihnen helfen können.“<br />
Lutz Müller-Bohlen, Sozialarbeiter bei der Karuna-Sozialgenossenschaft<br />
Stralauer Allee<br />
Spree<br />
TREPTOW<br />
Markgrafendamm<br />
Ostkreuz<br />
Kynaststr.<br />
Alt-Stralau<br />
Obdachlosencamp<br />
Rummelsburger See<br />
Nöldnerstr.<br />
Rummelsburg<br />
LICHTENBERG<br />
Hauptstr.<br />
Zwei Schlafsäcke, drei Isomatten: So hat dieser junge Mann im Zelt geschlafen.<br />
100 m<br />
BLZ/HECHER<br />
brauchen“, sagt er. Essei schon viel<br />
passiert in den vergangenen Wochen.<br />
Müller-Bohlen spricht von<br />
sinnstiftender Arbeit. Drei junge<br />
Frauen aus dem Camp waren lungenkrank,<br />
nun wohnen sie in einem<br />
Hostel, das Karuna besorgt hat. Zwei<br />
weitere Bewohner sind in eine Einrichtung<br />
von Karuna ins Land Brandenburg<br />
gewechselt. „Die meisten<br />
Bewohner im Camp leben nicht freiwillig<br />
auf der Straße, sie wollen eine<br />
eigene Wohnung.“<br />
Hinter Müller-Bohlen schaufeln<br />
Bagger großer Mengen Müll in Container,<br />
alte Matratzen sind dabei,<br />
zerfetzte Planen, verdreckte Schlafsäcke,kaputte<br />
Einkaufswagen. Noch<br />
im Dezember sah das Lager aus wie<br />
eine Müllkippe.Dann haben die Bewohner<br />
aufgeräumt, die Sozialarbeiter<br />
haben mobile Toiletten aufgestellt<br />
und einen Pavillon mit einem<br />
Ofen besorgt. Unter den Zelten liegen<br />
nun Holzpaletten und Dämmmaterial<br />
zum Schutz vor der Kälte.<br />
Die Bewohner haben jetzt warme<br />
Schlafsäcke und Isomatten. Die<br />
Zelte sind imprägniert. Einmal in der<br />
Woche treffen sich die Bewohner<br />
und Sozialarbeiter zum Plenum.<br />
Das ist die eine Seite. Niedrigschwellige<br />
Angebote, praktische<br />
Hilfe und eine gute Ausstattung, damit<br />
kein Obdachloser erfriert. Drei<br />
Menschen sind in Berlin in diesem<br />
Winter bereits draußen gestorben –<br />
in einem Kältebahnhof am Moritzplatz,<br />
auf einer Parkbank im Humboldthain<br />
und in der Ruine vomfrüheren<br />
Spaßbad Blub.<br />
Doch es gibt eine zweite Seite,um<br />
die sich die Sozialarbeiter im Camp<br />
kümmern, und die ist viel komplizierter.<br />
Lutz Müller-Bohlen sagt, es<br />
sei schwierig und es dauere lange,<br />
bis die jungen Leute im Camp den<br />
Sozialarbeitern vertrauen. Viele sind<br />
misstrauisch, lehnen anfangs Ratschläge<br />
ab und jede Hilfe.Das wissen<br />
die Sozialarbeiter,Müller-Bohlen hat<br />
bereits psychisch Kranke und auch<br />
Menschen in therapeutischen Einrichtungen<br />
betreut. „Wir stellen<br />
keine Forderungen, sondern lassen<br />
uns auf ihre Situation ein“, sagt er.<br />
„Und wir erzählen den Menschen<br />
nicht, wie das Leben funktioniert.“<br />
Am wichtigsten sei das Gemeinschaftsgefühl.<br />
DieBewohner fühlten<br />
sich im Camp wie in einer großen Familie,<br />
obwohl viele in ihren eigenen<br />
Familien schlechte Erfahrungen gemacht<br />
haben. „Es gibt viele gebrochene<br />
Biografien“, sagt Lutz Müller-<br />
Bohlen. Und manchmal vergehen<br />
mehrereWochen, bevor jemand anfängt,<br />
davon zu erzählen. „Darum<br />
brauchen wir so viel Zeit.“ Und irgendwann<br />
fragt Müller-Bohlen die<br />
jungen Leute: „Wovon träumst du?“<br />
Dann wirdeskonkret.<br />
So wie bei Cassy.Sostellt sich der<br />
27-Jährige vor, der mit seiner Hündin<br />
in einem Zelt lebt, das einen Vorraum<br />
hat. Ein flacher Tisch steht<br />
dort, zwei Stühle und ein Regal. Vor<br />
etwa drei Jahren hat Cassy seine<br />
Wohnung verloren, erzählt er. Die<br />
Miete wurde zu teuer. Seither lebt er<br />
auf der Straße, seit vier Monaten im<br />
Camp an der Rummelsburger Bucht.<br />
Aber warum übernachtet er im<br />
Zelt und nicht in einer warmen Notunterkunft?<br />
Ingesamt 1200 Übernachtungsplätze<br />
hat Berlin in diesem<br />
Winter für Obdachlose eingerichtet.<br />
Etwa 200 bleiben jede Nacht<br />
frei. Die meisten schlafen draußen<br />
oder kommen bei Freunden und Bekannten<br />
unter. Immerhin leben<br />
2000 bis 4000 Obdachlose in der<br />
Stadt, manche Hilfsorganisationen<br />
sprechen von bis zu 6000. Eine Leserin<br />
der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> schrieb<br />
kürzlich, es sei würdelos von einer<br />
Gesellschaft, Menschen auf der<br />
Straße leben zu lassen.<br />
Cassy sagt, er würde nie in einer<br />
Notunterkunft übernachten. Dort<br />
herrsche eine aggressive Stimmung,<br />
man müsse mit vielen unbekannten<br />
Menschen in einem Raum schlafen,<br />
es gebe keine Privatsphäre, viele<br />
seien betrunken. „Im Camp sind wir<br />
unter uns“, sagt er. „Und wir schützenuns<br />
gegenseitig.“<br />
Obdachlose als Lotsen<br />
Cassy hat dem Sozialarbeiter Lutz<br />
Müller-Bohlen neulich von seinen<br />
Träumen erzählt, wie er sich seine<br />
Wohnung einrichten und dass er<br />
gern inder Obdachlosenhilfe arbeiten<br />
würde. Sozialsenatorin Breitenbach<br />
plant, Jobs für Obdachlose zu<br />
schaffen, finanziert aus dem Projekt<br />
Solidarisches Grundeinkommen.<br />
Ehemalige Obdachlose sollen als<br />
Lotsen in der Stadt unterwegs sein,<br />
Menschen ansprechen und sie an<br />
Hilfeeinrichtungen weiterleiten. Zur<br />
Zeit verhandelt sie darüber mit dem<br />
Regierenden Bürgermeister und<br />
dem Finanzsenator.<br />
Lutz Müller-Bohlen kennt diese<br />
Pläne, Karuna beschäftigt bereits<br />
frühere Obdachlose als Sozialarbeiter.„Wirfinden<br />
was für dich“, sagt er<br />
zu Cassy,als er das Zelt verlässt.