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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 25 · M ittwoch, 30. Januar 2019 3 *<br />
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Seite 3<br />
Die Beste<br />
Über das Leben und Wirkender Juristin Ruth Bader Ginsburg existiertbereits eine Hollywood-Verfilmung.<br />
GETTY IMAGES/THE WASHINGTON POST<br />
Eine haarsträubende Verschwörungstheorie<br />
kursiert indiesen Tagen<br />
im Internet. Dort–genauer:bei<br />
YouTube –findet man eine Reihe<br />
vonVideo-Clips,die mit allerlei technischem<br />
Aufwand versuchen, diese Theorie zu belegen.<br />
Zu sehen sind extrem verlangsamte<br />
Ausschnitte aus den Nachrichtensendungen<br />
von Fox News, indie einzelne, kaum wahrnehmbare<br />
Bilder von Donald Trump eingestreut<br />
sind. Bilder, die sich angeblich direkt<br />
ins Unterbewusstsein einbrennen sollen.<br />
Den Sender Fox indie Ecke der Propaganda<br />
für den US-Präsidenten Trump zu stellen, ist<br />
nicht weit hergeholt. Der Gedanke jedoch,<br />
dass Foxsoweit geht, mit solchen Mitteln zu<br />
arbeiten, erscheint allzu kühn.<br />
Doch in der vergangenenWoche passierte<br />
dann dies: Mitten in einem Nachrichtensegment<br />
vonFox flimmerte für mehrereSekunden<br />
ein Schriftband auf dem Bildschirm, das<br />
das Ableben der obersten Bundesrichterin<br />
Ruth Bader Ginsburgmeldete.<br />
Der Sender entschuldigte sich flugs,<br />
nachdem Tausende Zuschauer protestiert<br />
und angemerkt hatten, dass es der 85 Jahre<br />
alten Richterin bestens gehe,wenngleich sie<br />
in einer Klinik auf einen möglichen Lungentumor<br />
untersucht worden war. Noch sei es<br />
nicht so weit, hieß es,dass die Konservativen<br />
des Landes über das Ende der vomlinksliberalen,<br />
feministischen Amerika so heiß geliebten<br />
Juristin frohlocken können.<br />
Mehr als die bloße Gier<br />
Linke wie Konservative beobachten derzeit<br />
in den USA mit gleicher Angespanntheit den<br />
Gesundheitszustand von Ruth Bader Ginsburg,<br />
die seit 1993 im obersten Gremium der<br />
amerikanischen Rechtssprechung dient.<br />
Links hält man die Daumen, dass Ginsburg,<br />
die, wie alle obersten Bundesrichter, auf Lebenszeit<br />
benannt ist, durchhält, bis Donald<br />
Trump abgewählt wird. Rechts hofft man<br />
hinter vorgehaltener Hand, dass Ginsburg<br />
die nächsten zwei Jahre nicht überlebt und<br />
Trump mit einer dritten Nominierung die<br />
konservativeMehrheit im Obersten Bundesgericht<br />
auf Jahrzehnte zementieren kann.<br />
Die Fehlleistung von Fox offenbarte<br />
mehr als bloß die Gier danach, die dritte Gewalt<br />
im Staat dauerhaft in konservative<br />
Hände zu bringen. Ruth Bader Ginsburghat<br />
in den vergangenen Jahren Kult-Status erlangt,<br />
sie eint die Opposition im Land über<br />
Generationen, Geschlechter, ethnische Zugehörigkeiten,<br />
sexuelle Orientierungen und<br />
religiöse Überzeugungen hinweg. Nichts<br />
wäre der Trump-Anhängerschaft lieber, als<br />
wenn Ginsburg von der Bildfläche verschwände.<br />
Doch derzeit gibt es für die amerikanische<br />
Rechte nicht viel Hoffnung, dass der<br />
Die oberste Bundesrichterin Ruth Bader Ginsburg<br />
eint die Opposition in den USA über Generationen hinweg.<br />
Nichts wäre der Anhängerschaft Donald Trumps lieber,<br />
als wenn sie von der Bildfläche verschwände.<br />
Einfluss von Ruth Bader Ginsburg inabsehbarer<br />
Zeit schwindet. Im Gegenteil –die Hollywood-Verfilmung<br />
ihres Lebensweges, „On<br />
the basis of sex“, war zur Weihnachtszeit ein<br />
Hit in amerikanischen Kinos. Der begleitende<br />
Dokumentarfilm „RBG“, den es nun<br />
auch online zu sehen gibt, ist für einen Oscar<br />
nominiertworden.<br />
DieFilme haben das Leben und Werk von<br />
Ruth Bader Ginsburginden Mittelpunkt des<br />
öffentlichen Interesses gerückt. Ihr Aufstieg<br />
zur Pop-Ikone begann jedoch schon Jahre<br />
zuvor. Genau genommen seit eine Jura-Studentin<br />
aus New York begann, „RBG“ mit einem<br />
Blog zu würdigen.<br />
DerStudentin Shana Knizhnik imponierten<br />
die bissigen Gutachten, mit denen GinsburgihreMinderheiten-Meinung<br />
im zunehmend<br />
konservativen Gericht artikuliert. So<br />
schrieb Ginsburg etwa zu einem Urteil, das<br />
den Wählerschutz für Minderheiten im Süden<br />
aufhob, das sei so,„als würde man mitten<br />
in einem Gewitter den Schirm wegwerfen,<br />
weil man nicht nass genug wird.“ Die<br />
Formulierung schaffte es auf Kaffeetassen<br />
und auf T-Shirts und elektrisierte ihre Fan-<br />
Gemeinde.<br />
Knizhnik nannte ihren Blog „The notorious<br />
RBG“ in Anspielung auf den nicht minder<br />
wortgewaltigen Rapper Notorious BIG,<br />
der, wie Ginsburg, aus Brooklyn stammte.<br />
Notorious RBG wurde zu einer Internet-<br />
Ikone, bald wurde sie zur Campus-Heldin<br />
der Bernie-Sanders-Generation. Youtuber<br />
vertonten gar ihreKommentareund verwandelten<br />
sie in Songs.Knizhnik begann die Biografie<br />
von RBG zu recherchieren und veröffentlichte<br />
2015 das erste von mittlerweile<br />
drei populären Werken über das bemerkenswerte<br />
Leben der Frau aus Brooklyn. Und je<br />
mehr Amerika über RBG wusste,desto mehr<br />
schloss das Land sie ins Herz.<br />
Joan Ruth Bader wurde 1933 in NewYork<br />
als Tochter eines russisch-jüdischen Vaters<br />
und einer österreichisch-jüdischen Mutter<br />
geboren. Als sie 14 Monate alt war,starb ihre<br />
ältere Schwester Melanie. Die Hoffnungen<br />
auf sozialen Aufstieg lasteten nun allein auf<br />
VonSebastian Moll, New York<br />
US-Präsident Donald Trump würde die konservative<br />
Mehrheit im Obersten Bundesgericht mit einer<br />
weiteren Nominerung gerne zementieren. AP/BRANDON<br />
der jüngeren Tochter. Die Eltern hatten sich<br />
einst beide keinen College-Besuch leisten<br />
können.<br />
Bader Ginsburg war erfolgreich auf der<br />
High School und dem College und wurde<br />
1956 als eine vonnur neun Frauen unter 500<br />
Studenten in die juristische Fakultät von<br />
Harvard aufgenommen. Wie ihre Biografie<br />
eindrücklich darstellt, musste sie dort von<br />
Anfang an gegen die Widerstände einer sich<br />
bedroht fühlenden Männerriege ankämpfen.<br />
So ließ der Dekan des Fachbereiches bei<br />
einem Dinner jede einzelne der neuen Studentinnen<br />
aufstehen und erklären, warum<br />
sie sich dazu berechtigt fühlten, einem<br />
männlichen Kommilitonen den Platz wegzunehmen.<br />
„Man hatte als Frau damals das Gefühl<br />
unter ständiger Beobachtung zu stehen“,<br />
sagt Ginsburg.„Man hatte immer Angst, dass<br />
man nicht nur sich selbst, sondern alle<br />
Frauen herunter enttäuscht, wenn man versagt.“<br />
DerDruck trieb Bader Ginsburgzuschier<br />
übermenschlichen Leistungen. Nachdem<br />
ihr Ehemann MartyGinsburg, den sie mit 17<br />
kennenlernte und der sie ein Leben lang<br />
rückhaltlos unterstützte, anHodenkrebs erkrankt<br />
war, erledigte sie sowohl seine als<br />
auch ihre eigenen Studienarbeiten und<br />
kümmerte sich um die gemeinsame Tochter.<br />
DerNachtschlaf fiel weitestgehend aus.Trotz<br />
allem aber war sie die beste Studentin ihres<br />
Jahrgangs.<br />
Dass dem Alltags-Sexismus der 50er-<br />
Jahre mit harter Arbeit und Intelligenz nicht<br />
beizukommen ist, musste sie jedoch erleben,<br />
als sie nach dem Studium in NewYork,<br />
wo ihr Mann einen Job als Steueranwalt antrat,<br />
eine Anstellung suchte.Trotz ihrer tadellosen<br />
akademischen Auszeichnungen lud sie<br />
nicht eine einzige renommierte Anwaltsfirma<br />
auch nur zu einem Gespräch ein.<br />
Bader Ginsburg zog sich vorerst in die<br />
Akademie zurück und unterrichtete als eine<br />
der ersten Juristinnen der USA das neue Gebiet<br />
des Frauenrechts.Wie keine andere Expertin<br />
des Landes studierte sie die Stellen im<br />
amerikanischen Recht, an denen die Ungleichheit<br />
vonMann und Frau kodifiziertist.<br />
„Ich habe jeden Fall gelesen, der mit der<br />
Gleichstellung der Frau zu tun hatte“, erinnert<br />
sie sich. „Das wirkt vielleicht wie ein gigantisches<br />
Unternehmen, das war es aber<br />
nicht. Es gab gar nicht so viel, die Jurisprudenz<br />
sah die Geschlechterdiskriminierung<br />
überhaupt nicht als Problem an.“<br />
DerHollywood-Film „Onthe basis of Sex“<br />
will uns glauben lassen, dass dieses Studium<br />
eine Art Trainingslager war, das sie, gleich<br />
Rocky, aufihren ersten großen Kampf vorbereitet<br />
–den ersten Fall von Geschlechterdiskriminierung,<br />
den sie vor Gericht brachte.<br />
Die Wirklichkeit war etwas weniger dramatisch,<br />
doch es war in der Tatder Fall von<br />
Charles Moritz, der Ruth Bader Ginsburgs<br />
Laufbahn als Frauenrechts-Anwältin begründete.<br />
Klugerweise wählte Ginsburg damals einen<br />
Fall aus,bei dem ein Mann vordem Gesetz<br />
ungleich behandelt wurde –indiesem<br />
Fall ein Mann, der für seine kranke Mutter<br />
sorgte und dem wegen seines Geschlechts<br />
staatliche Unterstützung verweigert wurde.<br />
Noch viel folgenreicher war jedoch, dass die<br />
Verhandlung, die Ginsburg gewann, ihre<br />
Strategie begründete, nach und nach, in einem<br />
Fall nach dem anderem, die rechtliche<br />
Gleichstellung der Geschlechter in Amerika<br />
zu erzielen.<br />
„Unsere Strategie damals war eigentlich<br />
sehr simpel“, sagt sie.„Wir haben die Vorurteile<br />
gesucht, die in Gesetzen festgeschrieben<br />
waren und versucht zu zeigen, dass solche<br />
Vorurteile allen schaden, nicht nur den<br />
Frauen. Wirwollten, dass Menschen danach<br />
beurteilt werden, was sie zur Gesellschaft<br />
beitragen, nicht danach, welchem Geschlecht<br />
sie angehören.“<br />
Viele ihrer Fälle kamen in den 70er-Jahren<br />
vor das Oberste Bundesgericht und werden<br />
heute als wegweisend betrachtet. Prozesse<br />
wie der Fall Frontiero gegen Richardson, in<br />
dem einer Militärangehörigen Beihilfen für<br />
ihren Mann zugesprochen wurden, der sich<br />
um Haushalt und Kinder kümmerte,sorgten<br />
im amerikanischen Case-Law nach und<br />
nach für die juristische Gleichstellung von<br />
Mann und Frau. Die berühmte Feministin<br />
Gloria Steinem drückte es so aus: „Durch<br />
Ruths Arbeit fühlte ich mich in den USA erstmals<br />
durch die Verfassung geschützt.“<br />
Siewollte verändern, nicht stürzen<br />
Dennoch ist es ironisch, dass Ruth Bader<br />
Ginsburg heute als feministische Ikone gefeiert<br />
wird. Die Frauenbewegung der 70er-<br />
Jahrewar ihr eigentlich fremd. Aufdie Straße<br />
zu gehen und zu demonstrieren, war nicht<br />
ihreSache.Und sie sah es auch nie als ihr Ziel<br />
an, dramatische gesellschaftliche Veränderung<br />
herbeizuführen.<br />
Als ihren Leitsatz zitiert Bader Ginsburg<br />
immer SarahGrimke,eine große amerikanischen<br />
Feministin des 19. Jahrhunderts: „Ich<br />
bitte nicht um viel für mein Geschlecht. Alles,<br />
was ich von meinen Brüdern verlange,<br />
ist, dass sie ihre Stiefel aus unserem Nacken<br />
nehmen.“<br />
Ginsburgsah sich nie als Radikale.Sokritisierte<br />
sie in einem berühmt gewordenen<br />
Vortrag das Bundesurteil Roe gegen Wade<br />
von1973, das in den USA die Abtreibung faktisch<br />
legalisierte. Ginsburg setzte sich sehr<br />
wohl für das Recht auf Abtreibung ein, doch<br />
sie fand, dass es nicht die Rolle der Gerichte<br />
sei, derart große politische Richtlinien vorzugeben.Vielmehr<br />
sah sie es als ihreAufgabe<br />
an, eine„juristische Landschaft“ zu schaffen,<br />
die schlussendlich die Politik dazu zwinge,in<br />
Gesetzen denWandel festzuschreiben. Bader<br />
Ginsburgwollte immer die Institutionen verändern,<br />
nie stürzen.<br />
Sebastian Moll bewundertallestarkenFrauen<br />
der Generation vonRuth<br />
Bader Ginsburg.