Berliner Zeitung 13.05.2019
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10 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 109 · M ontag, 13. Mai 2019<br />
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Stadtgeschichte<br />
Diese Ausstellung könnte<br />
zu einer Befreiung werden<br />
und zu einer Erlösung<br />
Ost-Berlins von<br />
Darstellungen führen, die sich in<br />
dümmlichen Witzeleien, uninformierten<br />
oder absichtsvoll-böswilligen<br />
Verzeichnungen ergingen. So etwas<br />
dominierte seit dem Mauerfall:<br />
Leute mit schaurigen Haarschnitten<br />
und Niethosen, Stasi-Typen mit<br />
Blousonjäckchen und Armgelenktäschchen,<br />
graue Fassaden oder<br />
Plattenbauten mit „Arbeiterschließfächern“,<br />
Dreckschleuder-Trabis,<br />
auf die der Ossi-Depp 14 Jahre ohne<br />
einen Mucks wartete. Das gab es alles<br />
auch, aber nicht nur.<br />
Daswachsende Interesse an einer<br />
ehrlichen, fairen Antwort auf die<br />
Frage „Wie war das denn nun in Ost-<br />
Berlin?“ verlangt schon lange nach einer<br />
Antwort. Punktuell hat sich der<br />
Blick auch schon geändert. So wurden<br />
die Reize des einst verlachten<br />
Stalin-Zuckerbäckerstils in der Karl-<br />
Marx-Allee entdeckt –erst vonglücklichen<br />
Bewohnern, dann vonInvestorenund<br />
schließlich vonPolitikern, die<br />
befanden, das sozialistische Bauensemble<br />
gehöre gemeinsam mit dem<br />
Hansaviertel zumWeltkulturerbe.<br />
Nunstellte sich das Stadtmuseum<br />
dieser Frage mit der Sonderausstellung<br />
„Ost-Berlin –Die halbe Hauptstadt“.<br />
Man hat es sich nicht leicht<br />
gemacht. Museumsdirektor Paul<br />
Spieß beschreibt die möglichen Fallen<br />
ganz treffend: Ostalgie-Gefahr,<br />
Wieder-mal-bloß-Westsicht, Erinnerungsverbote.<br />
Das alles wollten die<br />
Ausstellungsplaner keinesfalls und<br />
probierten das Prinzip vorauseilender<br />
Offenheit.<br />
In diesem Fall hieß das vorallem:<br />
keine West-<strong>Berliner</strong>,dafür die Einbeziehung<br />
vieler, ganz verschiedener<br />
Leute mit Ostbiografien aller Art –<br />
aus dem eigenen Museum, bei den<br />
akademischen Partnern vom Zentrum<br />
für Zeithistorische Forschung<br />
in Potsdam. Dazu kamen „Kontrollgruppen“,<br />
bestehend aus Schülern<br />
und Studenten mit wachen Augen<br />
und neuen Fragen. Letztere hatten<br />
unter anderem den Faktor Zeitzeugen<br />
auszubalancieren. Denn dieser<br />
neigt dazu, seine individuelle Erfahrung<br />
für allein gültig zu halten. Doch<br />
so ist es eben nicht.<br />
Schön und ästhetisch<br />
Nun kann verkündet werden: Experiment<br />
gelungen! Schon die erste<br />
Szene, die den Besucher begrüßt,<br />
lässt Vorfreude wachsen: Im Vordergrund<br />
der Startinszenierung steht<br />
das zentrale Segment eines Modells<br />
vomOst-<strong>Berliner</strong> Zentrum von1989,<br />
das schlicht, ohne Propagandagedöns<br />
zeigt, wie sich die Stadtgestalter<br />
ihr modernes Hauptstadtzentrum<br />
dachten. Dahinter ein Gemälde des<br />
DDR-Künstlers Walter Womacka aus<br />
ähnlichem Blickwinkel, das Emotionalität<br />
in die Szenerie bringt, ohne<br />
Sentimentalität zu wecken. Modell<br />
wie Gemälde sind schön, ästhetisch.<br />
„Wertig“ solle die Ausstellung auftreten,<br />
sagt Kurator und Historiker Jürgen<br />
Danyel –und das tut sie auch.<br />
Wie sich zeigt, war das nicht so<br />
schwer. Etwa 600 Fotografien sind<br />
unter den mehr als tausend Ausstellungsobjekten<br />
–und erstklassige Fotografen<br />
mit Chronistentrieb hatte<br />
die DDR glücklicherweise in großer<br />
Zahl. Sie pflegten in verschiedenen<br />
Stilen eine alltagsnahe besondere<br />
Schwarz-Weiß-Ästhetik. Danyel charakterisiert<br />
ihre Aufnahmen als „liebevoll-ironisch<br />
und brutal-realistisch“.<br />
Schon allein damit ist dasVorhaben,<br />
ein facetten- und spannungsreiches<br />
Bild mit vielen<br />
Perspektiven zu zeichnen, gesichert.<br />
Ein besonderer fotografischer<br />
Fund gehörtnicht in diese Kategorie<br />
und ist dem Zufall zu verdanken.<br />
Ines Hahn, Leiterin der Fotografischen<br />
Sammlung des Stadtmuseums,entdeckte<br />
in zwei Pappkisten<br />
des Depots zwei Rollen. Darin, nebeneinander<br />
aufgeklebt auf blauer<br />
Plastikfolie, insgesamt 202 Fotos, 43<br />
Meter Ost-Berlin – zum einen die<br />
Fassaden der Friedrichstraße, zum<br />
anderen die der Greifswalder Straße.<br />
Letztereist nun als Abwicklung eines<br />
langen Straßenzuges in einem der<br />
Ausstellungsräume als langer Doppelstreifen<br />
zu sehen. Die Strecke<br />
hatte zu Zeiten der DDR-Hauptstadt<br />
eine besondereFunktion. An der so-<br />
Die vieltausendfache<br />
Hauptstadt<br />
Eine Ausstellung im Ephraim-Palais zeigt Ost-Berlin als facetten- und spannungsreichen Organismus<br />
VonMaritta Tkalec<br />
Bauarbeiter bei Montagearbeiten an der Leuchtschrift auf dem Haus der Statistik am 13. August 1969<br />
Demonstration für Rosa Luxemburg und<br />
KarlLiebknecht, Januar 1979 CHRISTINA GLANZ<br />
Rakete eines Fahrgeschäfts im Kulturpark,<br />
1969 SPREEPARK, GRÜN BERLIN/OLIVER ZIEBE<br />
Außenbecken des Sport- und Erholungszentrums (SEZ) um 1985 –die gesamte Anlage<br />
warhochbeliebt und gut genutzt. Nun droht der Abriss.<br />
BUNDESARCHIV<br />
Volksbühnenplakat für das Programm<br />
„Zeitstücke2“, 1974 STADTMUSEUM/OLIVER ZIEBE<br />
Stabhandpuppe zu „HerrKonnie und<br />
die Uhren“, 1989 STADTMUSEUM/OLIVER ZIEBE<br />
BUNDESARCHIV/EVA BRÜGGEMANN<br />
Individuelle Nutzung der Fußbebauung<br />
des Fernsehturms, 1. Mai 1974 JÜRGEN NAGEL<br />
Lebensfroh und volksnah: Plakat des Kulturparks,<br />
1981 DRUCKKOMBINAT BERLIN/OLIVER ZIEBE<br />
genannten Protokollstrecke rollten<br />
die Politbüromänner vonihrem eingemauerten<br />
Städtchen in Wandlitz<br />
in ihre Büros. Deshalb hatte an der<br />
Straße Ordnung zu herrschen. Anfangs<br />
strich man sparsam nur die<br />
Erdgeschosse weiß an, später die gesamten<br />
Fassaden. Die Fotos sind<br />
leicht unscharf, also unprofessionell.<br />
Auffällig sind kleine Markierungen<br />
an den Einzelhandelsgeschäften. In<br />
der Greifswalder finden sich 41 blaue<br />
HO-Signets und 29 rote von Konsum.<br />
Wer das Werk vollbracht hat<br />
und warum, ist nicht bekannt.<br />
Zwei kleine Objekte haben das<br />
Potenzial, zu Stars der Ausstellung zu<br />
werden. In einem Glaskasten stecken<br />
handgeschriebene, klein gefaltete<br />
Zettelchen, die über die Mauer<br />
von Ost nach West und umgekehrt<br />
flogen, als diese noch kein breiter Todesstreifen<br />
war. Daheißt es in sauberster<br />
Handschrift in einem Kassiber:<br />
„Würden Sie bitte so gut sein<br />
und mir ein paar nahtlose Strümpfe<br />
über die Mauer werfen? Bei uns gibt<br />
es so schlecht welche. Größe 91/2,<br />
nicht allzu hell.“ Unterschrift: „Ihr<br />
Freund.“ Es kam Antwort geflogen:<br />
Manbittet um eine Adresse zum Zuschicken,<br />
„oder wir werfen die<br />
Strümpfe rüber“. Unterschrift:„Auch<br />
Freunde“. Das ist rührend menschlich<br />
und so was vonBerlin!<br />
Der andere Herzensbrecher sind<br />
die Tierparkzeichnungen von Erich<br />
Schmitt, dem legendären Karikaturisten<br />
der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>. Viele werden<br />
seine Figuren wie den Tierparklehrling<br />
Ede noch kennen. Jetzt können<br />
sie ihn wiedersehen. Mitkurator<br />
Hanno Hochmuth hat sein privates<br />
Kari-Taschenbuch beigesteuert.<br />
Wiederbegegnungen gibt es mit<br />
vielen Verschwundenen: dem Ahornblatt,<br />
dem Außenministerium, den<br />
Fassadenelementen des Centrum-<br />
Warenhauses am Alexanderplatz. Die<br />
Dienstjacke eines Mitarbeiters vom<br />
Sport- und Freizeitzentrum SEZ darf<br />
man sogar anziehen; auf kneipenbraunen<br />
Tresenhockern vom Metzer<br />
Eckkann man –vor einem Wandbild<br />
der Kneipe mit Gardine, Korblampe<br />
und Promifotos –Platz nehmen.<br />
Zwischen Sub- und Hochkultur<br />
Seit fast drei Jahrzehnten brummt in<br />
Berlin eine Aufarbeitungsmaschine,<br />
damit man das DDR-Herrschaftssystem<br />
nicht vergisst: Stasi-Unterlagenbehörde,<br />
Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen,<br />
Mauergedenkstätte<br />
etc. Eswird keiner behaupten können,<br />
dass damit die halbe Hauptstadt<br />
(die zuvor mal eine ganze gewesen<br />
war und nun wieder eine solche<br />
ist) auch nur annähernd beschrieben<br />
war. Nun gibt es also ein<br />
erstes Mosaik, und wir erblicken einen<br />
durchaus merkwürdigen Organismus,<br />
der zwischen Sub- und<br />
Hochkultur,Staatstreue und Sonderversorgung,<br />
Mai- und Militärparaden<br />
ein durchaus großstädtisches<br />
Leben führte –Leute, die ankamen,<br />
arbeiteten, wohnten, aßen, sich kleideten<br />
und vergnügten, Freiräume<br />
suchten und fanden. Jedem Themenkomplex<br />
widmet die Ausstellung<br />
einen Raum.<br />
Statt eines Ausstellungskatalogs<br />
erschien im Ch. Links Verlag ein Essayband.<br />
Mein Lieblingstext ist ein<br />
soziologischer. Er fegt das Klischee<br />
von Marzahn als seelenloser Schlafstadt,<br />
wo keiner hinziehen will, vom<br />
Tisch: Mehr als zwei Drittel der 1991<br />
für eine stadtsoziologische Studie Befragten<br />
sagten, „Marzahn war schon<br />
immer und ist immer noch besser als<br />
sein Ruf“. WasWünsche nach einem<br />
besseren Umfeld nicht ausschließt.<br />
Dass der Ost-Edle Heiner Müller die<br />
Plattenbauwohnungen als „Fickzellen<br />
mit Fernheizung“ verächtlich<br />
machte und deren Bewohner gleich<br />
mit, zeigt nur:InOst-Berlin lebte man<br />
durchaus auf unterschiedlichen Planeten.<br />
In einander fernen Welten lebten<br />
auch kritische Ost-Intelligenzia<br />
und Kirchenopposition, wie Stefan<br />
Wolle witzig und erhellend schreibt.<br />
Die Geschichtserklärung schreitet<br />
also voran. Wer mitschreiten will,<br />
gehe unbedingt in die Ausstellung –<br />
und verlasse sie nicht ohne das Buch.<br />
Die Ausstellung „Ost-Berlin“ istgeöffnetbis<br />
9. November ,Di, Do bisSo10bis 18 Uhr,Mi12<br />
bis 20 Uhr.Eintritt: 7Euro (MuseumEphraim-Palais,<br />
Poststr.16in10178 Berlin).<br />
Begleitprogramm unter:www.ost.berlin