Berliner Zeitung 13.05.2019
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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 109 · M ontag, 13. Mai 2019 – S eite 21 *<br />
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Feuilleton<br />
„Besser geht immer“:<br />
Ein neues Magazin<br />
im RBB<br />
Seite 23<br />
„Hier habe ich mich vom amerikanischen Rassismus erholt.“<br />
Die Künstlerin Adrian Piper über ihr selbsgewähltes <strong>Berliner</strong> Exil. Seite 22<br />
Klimawandel<br />
Der<br />
Erklärbär<br />
Harry Nutt<br />
hörtmit 100 Millionen anderen<br />
einen Umweltsong.<br />
Der amerikanische Komiker Lil<br />
Dicky war bislang nicht für<br />
seine Sorge ums große Ganze bekannt.<br />
In seinen Scherzen geht es<br />
meist um Titten, Schwänze und<br />
Fürze. Nichts Schlimmes, eher das,<br />
was Teenager zum Lachen bringen<br />
soll. Scheint geklappt zu haben. Der<br />
Mann mit Wuschelfrisur und Hipsterbarthat<br />
viele Fans.Und eine funktionierende<br />
Adressdatei. Für das liebevoll<br />
animierte Video zu seinem<br />
Song „Earth“ hat er rund 30 Superstars<br />
gebeten, eine gesungene Zeile<br />
beizutragen. Justin Bieber tritt darin<br />
als Affe auf, Ariana Grande als Zebra<br />
und Snoop Dog als Marihuana-<br />
Pflanze. Das ist genauso witzig wie<br />
der Einfall, Kevin Hart als KanyeWest<br />
in das Gemeinschaftslied einzuschleusen.<br />
Miley Cyrus, Katy Perry<br />
und Ed Sheeran sind auch dabei.<br />
Wenn mit dem Zählwerk von You-<br />
Tube alles in Ordnung ist, dann hat<br />
das Video in ein paar Tagen die 100-<br />
Millionen-Marke überschritten. Da<br />
ist noch Luft nach oben, denn zusammengenommen<br />
haben die Reichweitenstars<br />
eine Gefolgschaft von mehr<br />
als 800 Millionen Menschen.<br />
In einem zweiten Video erklärtLil<br />
Dicky, wie es dazu kam. Er habe irgendwann<br />
gehört, dass die Menschheit<br />
nur noch zwölf Jahre Zeit hat,<br />
um die Klimawende zu schaffen.<br />
Sonst sei sie – seine Worte – „am<br />
Arsch“. Die Stars verzichten auf Gagen,<br />
alle Einnahmen gehen an Organisationen,<br />
die mit der Leonardo-Di<br />
Caprio-Stiftung zusammenarbeiten.<br />
Die jungen Leute von Friday ForFuture<br />
gehören auch dazu. „Earth“ ist<br />
ein eingängiger Song, der nach demselben<br />
Muster aufgebaut ist wie „We<br />
areTheWorld“, das Lied, mit dem Michael<br />
Jackson, Lionel Richie und die<br />
All-Stars-Familie 1985 auf die Hungerkrise<br />
in Äthiopien aufmerksam<br />
machten. Michael Jackson gilt inzwischen<br />
als verfemt, aber ich bekomme<br />
beim Hören immer noch eine Gänsehaut,<br />
wenn weiter hinten im Lied der<br />
Einsatz von Bob Dylan kommt: „It’s<br />
true we’ll make abetter day, just you<br />
and me“.<br />
Mensch im Schafspelz<br />
Stehende Ovationen für zehn kurze Stunden: „Dionysos Stadt“ aus München beim Theatertreffen<br />
VonUlrich Seidler<br />
Soetwa in der Mitte der zehnstündigen,<br />
aus den Münchner<br />
Kammerspielen zum<br />
Theatertreffen eingeladenen<br />
Antikenfeier „Dionysos Stadt“<br />
lacht Kassandraein bitteres,mechanisch<br />
hustendes Lachen. Klar, sie<br />
kann in die Zukunft sehen: Wie Klytaimnestra<br />
den Gatten, den siegreichen<br />
griechischen Heerführer Agamemnon,<br />
der ihreTochter Iphigenie<br />
für Segelwind opferte und nun Kassandra<br />
aus Troja als seine Sklavin<br />
heimführt, in der Badewanne abschlachtet,<br />
und wie ihr Sohn Orest<br />
Rache dafür nehmen wird. Ha,ha.<br />
Kommt alles noch. Jetzt aber erzählt<br />
Kassandraeinen Traum, in dem<br />
sich alles, was bisher geschah, rückwärts<br />
abspielt: Aus den Schiffen der<br />
Griechen steigen schwer verwundete<br />
Männer,sie bringen Schätzemit und<br />
weinende Frauen, die sie ins niederbrennende<br />
Troja führen. Dortverstecken<br />
sie alles und gehen dann mit<br />
seltsamen Stöcken, die das Feuer aus<br />
den Häusern saugen, durch die Straßen.<br />
Ein Baby springt in einem Satz<br />
auf die höchste Zinne der Stadtmauer.Eswirddunkel,<br />
und die Griechen<br />
schleichen, um niemanden zu<br />
wecken, in ein Holzpferd.<br />
Undweiter:Helden berühren einander<br />
mit Zauberwaffen, dieWunden<br />
verschließen, Blut fließt aus dem<br />
Sand zurück in Venen. In den Pausen<br />
buddeln die Kämpfer ihre Gefährten<br />
aus.Sie werden immer frischer,kräftiger<br />
und jünger,segeln nach zehn Jahrengegen<br />
den Wind in alle Himmelsrichtungen<br />
weg, hämmern auf ihren<br />
Waffen herum, bis sie weich werden,<br />
verstecken das Erztief im Gestein der<br />
Gebirge, woesniemals jemand finden<br />
wird. Alle werden zu Babys und<br />
verschwinden, bis zwei übrig bleiben.<br />
Diese beiden rufen einem gefesselten<br />
Gott entgegen: „Hier bin ich, und bin<br />
Herr meines Schicksals.“ Dieser Gott<br />
ist Prometheus, der den Menschen<br />
das Feuer brachte und mithin alles,<br />
was sie zu Menschen macht.<br />
Der 34-jährige Regisseur Christopher<br />
Rüping erzählt mit fröhlichem<br />
Schwung alles mit allem. Er nimmt,<br />
was er kriegen kann, um das ganze<br />
mythische Gehuddel zu fassen, über<br />
das wir nun schon seit Jahrtausenden<br />
nachdenken, das wir gestalten, betrauernund<br />
feiernund dem wir unser<br />
Siegreicher Grieche straft Troerin (Nils Kahnwald und Maja Beckmann).<br />
FRÖHLICHER ALLESERZÄHLER<br />
JULIAN BAUMANN<br />
Christopher Rüping geboren1985inHannover, arbeitete als Regieassistent, bevorerinZürich<br />
und Hamburg Regie studierte. 2011wurde seine „Gatsby“-Inszenierung zum Radikal-Jung-Festivaleingeladen.<br />
Rüping ist seit 2016 Hausregisseur an den Münchener Kammerspielen, er inszenierte<br />
in Stuttgart,Hamburg,Zürich und am Deutschen Theater Berlin. Zweimal (2014,<br />
2015) wurde er zum „Nachwuchsregisseur des Jahres“gewählt.„Dionysos Stadt“ ist nach „Das<br />
Fest“ (2015) und „Trommelninder Nacht“ (2018) die dritte Theatertreffen-Einladung.<br />
Sosein und unsere Lage nicht lange<br />
vor dem Weltuntergang verdanken.<br />
Acht zugewandte Schauspieler –<br />
Maja Beckmann, Maja Feddah, Nils<br />
Kahnwald, Gro Swantje Kohlhof,<br />
Wiebke Mollenhauer, Jochen Noch,<br />
der Schlagzeuger Matze Pröllochs<br />
und Benjamin Radjaipour –verbrüdern<br />
sich miteinander im Spiel und<br />
mit dem Publikum über alle unlösbaren<br />
Konflikte und Rachestürme hinweg,<br />
ohne einander und uns zu schonen:<br />
Der Abend mischt Metaspäße,<br />
echtträniges Melodram, böse Splatterseifenoper,<br />
unnachgiebiges Überwältigungsgetrommel,<br />
erlösende<br />
Selbstreflexionen. Es gibt ein Fußballspiel,<br />
ein Hochzeitsfest, und alles endet<br />
mit einem Sonnenaufgang.<br />
Auf den Ursprung des Menschen<br />
blickt das Ensemble zurück und<br />
dazu noch 2500 Jahreindie Zukunft,<br />
wenn ein paar Übriggebliebene, die<br />
sich in Höhlen verkrochen haben<br />
werden, zurück ans Tageslicht kommen.<br />
Sie werden esbesser machen,<br />
weil sich bei der Unter-Tage-Evolution<br />
dasGen fürDemut gegen das für<br />
Gier zuständige durchgesetzt hat. Sie<br />
werden losgeworden sein, was Prometheus<br />
ihnen andrehte und vielleicht<br />
doch Menschen bleiben. Die<br />
Alten werden Eicheln essen und<br />
Liebe im Freien machen, die Jungen<br />
werden Worte inden Strand schreiben<br />
und zusehen, wie das Wasser sie<br />
schluckt. Unddie Sonne wird aufgehen<br />
als ein in warmen Feuerfarben<br />
leuchtender Kreis.<br />
So kommt es dann eine halbe<br />
Stunde vorMitternacht. Da hat man<br />
es dann geschafft und darfjubeln. Im<br />
Haus der <strong>Berliner</strong> Festspiele stehen<br />
die Leute, die den Tagseit 14 Uhr<br />
schauend, lachend, denkend, feiernd,<br />
in den Pausen quatschend, essend,<br />
trinkend und tanzend miteinander<br />
verbracht haben –und klatschen<br />
fast zehn Minuten. Klatschen,<br />
grüßen, feiern ihren Unglücksbringer<br />
Prometheus. Sie danken ihm für<br />
die Kultur. Schließlich haben sie in<br />
einer frühen Viertelstunde des Beisammenseins<br />
gesehen, wofür diese<br />
Gabe gut sein kann: Da nämlich tun<br />
Menschen, was nur Menschen können.<br />
Sie werfen sich Felle über und<br />
spielen. Sie spielen, was Schafe tun.<br />
Sie stehen, sinnen, blöken, kopulieren,<br />
kuscheln, fressen, wechseln die<br />
Positionen und beginnen von vorn.<br />
Leider viel zu kurz.<br />
NACHRICHTEN<br />
Marcel Beyer mit Dresdner<br />
Kunstpreis geehrt<br />
DerSchriftsteller Marcel Beyer(53)<br />
ist mit dem Kunstpreis der Landeshauptstadt<br />
Dresden ausgezeichnet<br />
worden. In seinem Roman „Kaltenburg“<br />
erfasse er den Charakter Dresdens<br />
in „außergewöhnlicher Weise“,<br />
teilte die Stadtverwaltung zur Entscheidung<br />
der Jury mit. DerKunstpreis<br />
ist mit 7000 Euro dotiertund<br />
wurde am Samstag verliehen. Marcel<br />
Beyerwurde in Baden-Württemberg<br />
geboren und lebt seit 1996 in Dresden.<br />
Er ist Lyriker,Erzähler und Romancier,Hörspiel-Autor<br />
und Opern-<br />
Librettist, Essayist und Herausgeber.<br />
2016 wurdeihm der Georg-Büchner-<br />
Preis verliehen, der als höchste literarische<br />
Auszeichnung im deutschen<br />
Sprachraum gilt. (dpa)<br />
Der französische Regisseur<br />
Jean-Claude Brisseau ist tot<br />
Derfranzösische Regisseur und<br />
Drehbuchautor Jean-Claude Brisseau<br />
ist tot. Er sei am Samstag im Alter<br />
von74Jahren an den Folgen einer<br />
langen Krankheit in einem Pariser<br />
Krankenhaus gestorben, teilten Angehörige<br />
mit. Brisseaus größter Erfolg<br />
war der 1989 erschienene Film<br />
„Noce Blanche“ („Weiße Hochzeit“).<br />
Mehr als 1,8 Millionen Menschen sahen<br />
den Film, in dem die französische<br />
Schauspielerin Vanessa Paradis<br />
ihren ersten großen Auftritt hatte,in<br />
den Kinos.ImJahr 2005 war der Regisseur<br />
wegen sexueller Belästigung<br />
verurteilt worden. DasFilminstitut<br />
Cinémathèque française sagte deshalb<br />
2017 eine für Brisseau geplante<br />
Retrospektiveab. (AFP)<br />
Dresdner Musikfestspiele<br />
mit „Visionen“ àlaBauhaus<br />
In ihrer 42. Ausgabe huldigen die<br />
Dresdner Musikfestspiele dem Bauhaus.Unter<br />
dem Titel „Visionen“<br />
sind vom16. Maibis zum 10. Juni<br />
insgesamt 56 Veranstaltungen geplant.<br />
Erwartet werden in Dresden<br />
unter anderen die <strong>Berliner</strong> Staatskapelle<br />
mit Daniel Barenboim, der Cellist<br />
Yo-YoMa, die Geigerin Anne-Sophie<br />
Mutter,ihr Kollege Joshua Bell<br />
und die Pianistin Hélène Grimaud.<br />
DasAbschlusskonzertinder Messehalle<br />
spielt Eric Clapton. (dpa)<br />
UNTERM<br />
Strich<br />
Klaus &Peter<br />
Knut hat der Film<br />
auch gefallen<br />
VonPeter Wawerzinek<br />
Klaus ist früh mit dem Zugnach Schwerin<br />
unterwegs. Meine Freundin und ich<br />
empfangen ihn am Gleis. Wie er sich freut!<br />
Grund für seinen Besuch ist das hiesige Filmfestival,<br />
mein „Lievalleen“ hat es bis in den<br />
Wettbewerb unter die besten zehn Dokumentarfilme<br />
geschafft. Wir haben viel darüber<br />
gesprochen, jetzt will er ihn sehen. Elf<br />
Uhr fünfzehn am Morgen. Ungünstiger geht<br />
es wohl nicht, wo doch die Leute in Mecklenburgsobrandungsfeste<br />
Essenszeiten haben.<br />
Einige Dutzende Male habe ich mir während<br />
der Postproduktion meinen Film nunmehr<br />
angesehen, im großen Kinosaal aber<br />
rührt ernicht nur mich herzlich an. Ich entdecke<br />
kleine neue Details in ihm. Undschon<br />
sind neunzig Minuten um, der Film ist aus.<br />
Ich stehe mit Steffen Sebastian (Kamera),<br />
Andi Preisner (Schnitt), Kirsten Hartung<br />
(Schauspielerin) und meiner Schwester<br />
Beate vor der Leinwand auf der Bühne. Wir<br />
reden mit der Moderatorin zum Film, wie er<br />
wurde,der er ist, und da ist die Veranstaltung<br />
auch schon wieder vorbei.<br />
Klaus erhebt sich, ihm ist nach einer<br />
herzlichen Umarmung. Der Film ist<br />
klasse, sagt er, deine Schwester unglaublich.<br />
So stark, so klug, so beglückend ihr<br />
zuzuhören. Und verabschiedet sich sogleich<br />
zum Bahnhof zurück, den erstbesten<br />
Zug nach Berlin. Wünscht uns Glück<br />
bei der Preisverleihung. Oh wehe, winke<br />
ich ab, falsche Jury in unserem Fall, ist<br />
nicht einmal ein filmerfahrener Dokumacher<br />
unter den drei Bewertern. Ich rechne<br />
absolut nicht damit, dass von denen auch<br />
nur ein Mitglied mein poetisch erzähltes<br />
Filmbilderbuch zu lesen versteht.<br />
KLAUS ZYLLA<br />
Undsokommt es dann auch bei der Riesenshow<br />
imschicken Staatstheater mit Ministerin<br />
Schwesig, die eine gute Rede hält.<br />
Mehr als eine Erwähnung durch Knut Elstermann,<br />
der den Festakt moderiert, und unseren<br />
Film ganz toll findet, meine Schwester<br />
Beate als seinen heimlichen Star des Festivals<br />
bezeichnet, springt für uns nicht heraus.<br />
Es gewinnt ein Boxerfilm. Steffen meint, wir<br />
könnten es auf Platz drei der Wertung geschafft<br />
haben. Meine kleine Schwester ist<br />
schwer enttäuscht. IhrBauchgefühl hat noch<br />
am Morgen eindeutig den Preis für uns bestimmt.<br />
Nun ist sie fassungslos, redet nichts<br />
mehr. Das Urteil ist ihr auf den Magen geschlagen.<br />
Siemuss den schweren Treffer erst<br />
einmal körperlich verdauen.<br />
WassoRingrichter mitunter zum Kampfende<br />
hin für seltsame Entscheidungen treffen,<br />
tröstet sie ihr alter FreundWolfgang, mit<br />
dem sie seit dem vierten Lebensjahr schicksalhaft<br />
verbunden ist. Beide hat man willkürlich<br />
in die DDR-Psychiatrie Stralsund-West<br />
weggesperrt. Darumgeht es im Film ja. Vielleicht<br />
hat die Jury ihn sich gar nicht bis zum<br />
Ende angesehen, sagt sie. Sonst wüssten die<br />
doch Bescheid. Schwesterherz, sage ich, wir<br />
waren hier und haben eine Weltpremiereerlebt.<br />
Nunheißt es weiter für den Film eintreten,<br />
andereFestivals mit ihm beglücken.<br />
So richtig stimmt das Versprechen meine<br />
saureSchwester Beate nicht um. Siekann ihren<br />
Mund nur ansatzweise zum Lächeln verziehen.<br />
Da sitzen wir längst mit guten Freunden<br />
zusammen an der Filmfeiertafel bei Spargel<br />
und Klopfschinken. UndHeide, die Frau<br />
vom Exwaldarbeiter Uli, verspricht den Film<br />
in ihr Kino nach Sabel zu holen. Denn da genau<br />
gehörterhin, prosten wir ihr zu, und bereiten<br />
die Party danach vor, mit Matjes, roter<br />
Beete, Vollkornbrot, gelbem Speck, Kartoffelsalat,<br />
Quark, Schnaps und reichlich Bier.