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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 214 · 1 4./15. September 2019 – S eite 25 **<br />
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Feuilleton<br />
Alles über<br />
die Kunstmessen<br />
der <strong>Berliner</strong><br />
ArtWeek<br />
Seite 26<br />
„Jeff Tweedy ist kein Mann vieler Worte.“<br />
Markus Schneider über das <strong>Berliner</strong> Konzert der Band Wilco Seite 26<br />
Schritt ins Nichts<br />
Thorleifur Örn Arnarsson versucht mit „Eine Odyssee“ die Volksbühne in Besitz zu<br />
nehmen, Mythen zu feiern und zu zerstören<br />
VonUlrich Seidler<br />
Jella Haase als Helena mit roter Fahne –die aus den „Fuck ju Göhte“-Filmen bekannte Schauspielerin ist jetzt im Ensemble der Volksbühne.<br />
VINCENZO LAERA<br />
Nach einer Stunde, sieben<br />
Minuten, wenn im allgemeinen<br />
Getöse der Pianist<br />
fluchtartig im Kreis<br />
sprintet, sind alle Steigerungsmöglichkeiten<br />
aufgebraucht. So lange<br />
dauert in der Volksbühne die erste<br />
Nummer von„Eine Odyssee“. Mitihr<br />
will der vonIntendant Klaus Dörr neu<br />
eingesetzte Schauspieldirektor Thorleifur<br />
ÖrnArnarsson das Haus mit allem,<br />
was es zu bieten hat, in Besitz<br />
nehmen. Danach dauert der Abend<br />
weiteredreiStunden, die mit gnadenlos<br />
zunehmender Langsamkeit vergehen.<br />
Aber was sind schon ein paar<br />
Stunden angesichts von zehn Jahren<br />
Krieg um Troja, von weiteren zehn<br />
Jahren Odyssee und dem Flug durch<br />
die Jahrtausende bis in die Gegenwart<br />
am Rande desWeltuntergangs?<br />
Die Schlacht beginnt mit einer<br />
minimalistischen Choreografie auf<br />
leerer Bühne. Menschen in sich lösenden<br />
Hautfetzen schreiten im Geviert<br />
nach einfachen Regeln, die in<br />
plötzlicher Individualität abweichen,<br />
sodass man sich in die Quere<br />
kommt. Aus den Begegnungen werden<br />
Konflikte, und es geschieht, was<br />
geschehen muss.<br />
DerTrojaner-König Priamus (Robert<br />
Kuchenbuch −der später umstandslos<br />
auch Agamemnon, den<br />
Kriegsherrnder Griechen spielt) entsendet<br />
ein letztes Gebet an Zeus.<br />
Dann wird von der Mauer in die<br />
Schlacht geschaut, und der Chor der<br />
Musen kommt kaum hinterher. Ein<br />
Geklirr vonWaffen und Schilden, ein<br />
Gepränge von Heldennamen und<br />
Eine Odyssee<br />
vonMikael Torfason und<br />
Thorleifur ÖrnArnarsson<br />
Regie: Thorleifur ÖrnArnasson,<br />
Bühne: Daniel Angermayr,<br />
Kostüme: Karen<br />
Briem, Musik: Gabriel Cazes,<br />
Chor:Nils Strunk, Choreografie:<br />
Laura Witzleben<br />
ein Gemetzel von Leibern, die letztlich<br />
banal und ungeschützt krepieren.<br />
Im Einzelnen ist das akustisch<br />
nicht zu verstehen, aber auch einerlei<br />
und vielleicht sogar Absicht, weil<br />
eben immer sinnlos gestorben wird.<br />
Eine Bühne mit drei Musikern<br />
und vielen Instrumenten wird hereingeschoben,<br />
die Bassdrum pulsiert<br />
mit Unerbittlichkeit, treibende<br />
punktierte Triolen ratternauf kleinerenSchlaginstrumenten<br />
los,ein melodisches<br />
Thema dreht seine sich ins<br />
Kakophonische steigernden Schleifen,<br />
und immer wieder haut und<br />
stolpert der Rhythmus zwischen die<br />
Verse des Kriegsgesangs. Man<br />
möchte mittanzen.<br />
Groß sind auch die hausheiligen<br />
Verse, die von den Zügen hängen,<br />
auf- und niederschweben und mit<br />
edler Ruhe ihreSchatten in die Endlosigkeit<br />
der Zeit werfen. Sie stammen<br />
aus Heiner Müllers „Traumwald“,<br />
einem späten, nackten, von<br />
Heldennamen entkleideten, deshalb<br />
unendlich geräumigen Gedicht −in<br />
dem sich der Träumer selbst als bewaffnetem<br />
Kind begegnet −im„Lidschlag<br />
zwischen Stoß und Stich“.<br />
Dortinden Raum gehängt, blitzt das<br />
Gedicht als Kurzschluss aller Legenden,<br />
aller Vater-, Sohnes- und Selbstmorde<br />
auf, zerfällt und setzt sich neu<br />
zusammen.<br />
Dazu Schreie, Pfiffe, Lichtgeflacker<br />
kommen hinzu, eine Wand aus<br />
250 zusammengefügten Umzugskartons<br />
senkt sich mit erbarmungsloser<br />
Langsamkeit am Bühnenportal<br />
herab, sie fängt sich auflösende Bilder<br />
von Waldbränden, Gemälden,<br />
Verkehrschaos; ein Schiff wird von<br />
Meereswellen herumgeworfen. Die<br />
Musen schlagen wie irre auf irgendwelchen<br />
Tonnen und Töpfen herum,<br />
schreien sich die Seelen aus den Leibern<br />
und holen rhythmisch keuchend<br />
Atem. Dasletzte Wort,das unter<br />
der Kartonwand durchschallt<br />
und wiederholt wird, als hätte eine<br />
Platte einen Sprung, gehört Andromache,<br />
der trojanischen Witwe, und<br />
es lautet: „Knechtschaft, Knechtschaft,<br />
Knechtschaft“ −der Kollege<br />
neben mir hat „Gletscher, Gletscher,<br />
Gletscher“ verstanden. Das würde<br />
auch passen, weil es bis hier mit Lust<br />
und überbordendem Gestaltungswillen<br />
um alles geht. Krachbumm.<br />
Das ist erst einmal keine falsche<br />
Ansage, die der unerschrockene Isländer<br />
Arnarsson da macht. Tapfer<br />
DIE NÄCHSTE GENERATION<br />
Es spielen: Sólveig<br />
Arnarsdóttir, Johanna Bantzer,<br />
Sarah Franke,Claudio Gatzke,<br />
Jella Haase, RobertKuchenbuch,<br />
Daniel Nerlich, Silvia<br />
Rieger,Sarah Maria Sander,<br />
Nils Strunk,TheoTrebs, Laura<br />
Witzleben und die Musiker:<br />
Gabriel Cazes, Damiàn Diabohaund<br />
Sir Henry<br />
Vorstellungstermine:<br />
14., 21., 22. September;<br />
5., 13. Oktober;<br />
2. November,jeweils 19 Uhr<br />
in der Volksbühne am Rosa-<br />
Luxemburg-Platz<br />
Karten unter Telefon:<br />
24065777, im Internet:<br />
volksbuehne.berlin<br />
setzt er sich in den mythisch befrachteten<br />
Tempel Volksbühne, versucht<br />
ihn mit einem eigenen Kult zu<br />
füllen −und geht in den Weiten der<br />
Hallen erst einmal verlustig. Indem<br />
er inhaltlich vage bleibt, aber auch<br />
ganz praktisch und konditionell<br />
nicht durchhält.<br />
Ein Klicken im Bühnenturm, die<br />
Kartonwand kippt langsam in die<br />
Tiefe,als würde das Theater seufzen.<br />
Und der hochgepushte Zuschauer<br />
klatscht sehr trocken auf: Am Horizont<br />
ruckeltblass ein Videospiel. Für<br />
jeden abgestochenen Trojaner gibt<br />
es Punkte. Dazu Stille, nur das Klapperneines<br />
Controllers.<br />
Da haben wir das Kind: Telemachos,<br />
Sohn des Odysseus (Nils<br />
Strunk), der in Ithaka mit seiner Mutter<br />
Penelope auf den heimkehrenden<br />
Kriegshelden wartet. Penelope<br />
(Johanna Bantzer) beschimpft ihn<br />
als Heulsuse (unter Verwendung<br />
schlimmer homophober Ausdrücke),<br />
was den Jungen anstachelt, auf<br />
Wahrheitssuche zu gehen. Dem Vater,<br />
den er um seine Heldengeschichten<br />
beneidet, brüllt er ins Gesicht,<br />
dass er ihm kein Wort davon<br />
glaubt. Recht so.Geht uns ähnlich.<br />
Odysseus (Daniel Nerlich) ist<br />
wirklich ein schwer erträglicher Aufschneider,<br />
und seine Heldentaten,<br />
für die es meistens keine Zeugen<br />
gibt, sind bei Lichte betrachtet jämmerliche,<br />
wenn auch effektive<br />
Kriegslisten (siehe Holzpferd). Auch<br />
Helena (Jella Haase) und Menelaos<br />
(Theo Trebs) sind, aus dem Kontext<br />
der Heldensagen gerissen, kaum<br />
mehr als unterkomplexe Eheleute.<br />
Mit einem durchlöcherten Russenpanzer<br />
fahren sie herein, kommen<br />
sofort vom Thema ab und schwärmen<br />
von ihrer Rindfleischdiät, während<br />
die rote Fahne in Helenas Arm<br />
schwer wird und sie später mit dünner<br />
Stimme doch noch Gerechtigkeit<br />
fordert. Alle Figuren werden im<br />
Laufe des Abends mit weißer Farbe<br />
angepinselt, auf dass sie zu Marmorstatuen<br />
erstarren −und zu ihrem eigenen<br />
Vorteil die Klappen halten.<br />
Derzweifelnde Sohn, dessen ganz<br />
eigene Irrfahrtdarin besteht, den Vater<br />
und seine Legenden zu demontieren,<br />
ist der Identifikationspunkt des<br />
Abends, auf ihn wird man zurückgeworfen,<br />
wenn auf einmal die Rede<br />
vom Afghanistankrieg ist, weil der<br />
Bruder von Koautor Mikael Torfason<br />
dort kämpfte. Von Telemachos aus<br />
gibt es einenVektor zu den postheroischen<br />
Schlachten der Gegenwart, bei<br />
denen eine auf Vollständigkeit abzielende<br />
Aufzählung von historischen<br />
Kriegen samt Angabe von Opferzahlen<br />
endet.Wiekönnen wir,scheint ein<br />
in den Raum gelassener Elefant zu<br />
fragen, an ihnen vorbei leben? Später<br />
nehmen drei nackte amerikanische<br />
Präsidenten des Elefanten Platz ein:<br />
einer hat gerade abgespritzt, dem<br />
zweiten steht er,und der dritte ist am<br />
Rubbeln. Undsoweiter.<br />
Der Abend will einerseits alles erzählen<br />
und andererseits jeden Mythos<br />
niederstrecken. Immerschön im<br />
Wechselrhythmus von Pathos und<br />
Ironie, von schwellender Opulenz<br />
und entseelter Distanziertheit.<br />
Warum nicht? Doch wie beliebig ist<br />
das Ganze zusammengesteckt! Wie<br />
schnell geht dem Gedanken die Puste<br />
aus! Wie klein und schwach sind im<br />
Getümmel die Schauspieler. Dieser<br />
Abendsoll unter anderem auch Vater<br />
Castorfdemontieren −und bautihm<br />
einen Sockel. Mit großer Geste der<br />
Selbstermutigung und Selbstermächtigung<br />
der nächsten Generation<br />
ist das neue Volksbühnenteam, das<br />
zwei Spielzeiten bis zur Übernahme<br />
durch René Pollesch das Theater zur<br />
Verfügung hat, losgestürmt und gescheitert.<br />
Erst einmal nur praktisch<br />
undnoch lange nicht tragisch.<br />
Ulrich Seidler<br />
freut sich auf den<br />
nächsten Anlauf.