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The Red Bulletin 09/21 AT

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Streetball<br />

einmal 44 Punkte. Als ihn ein Freund<br />

darauf ansprach, antwortete er: „Wer<br />

ist Phil Sellers?“ Von dem Hall-of-Fame-<br />

Mitglied Chris Mullin, auch eine New<br />

Yorker Basketball-Legende, ist das Statement<br />

überliefert, Black Jack sei der<br />

beste Werfer, den er außerhalb der NBA<br />

je gesehen habe. Hier im West 4th umgab<br />

Ryan eine Familie, das spürte er.<br />

Hier war Beständigkeit: Dass der Punktezähler<br />

Omar vor den Spielen immer<br />

viel zu viel billiges Bier trank und sich<br />

prompt verzählte, sodass Graham ihn<br />

korrigieren musste, änderte nichts daran,<br />

dass Omar weiterhin für die Punkte verantwortlich<br />

blieb. Ryan gefiel das. Die<br />

Sticheleien des Sprechers, der ballettgleiche<br />

Wettkampf, Kenny Grahams<br />

strenge Regeln gegen Gewalt – das alles<br />

sorgte für Stabilität in einer sonst völlig<br />

instabilen Welt.<br />

Jack Ryan war MVP („most valuable<br />

player“ – der wertvollste Spieler) in einer<br />

der Ligen, auf seiner Wade prangt ein<br />

Tattoo des West-4th-Logos. Und er trifft<br />

sich immer noch mit Leo, Sherm, Doc<br />

– all den Männern, mit denen er Freundschaft<br />

geschlossen hat in seinen fast<br />

vierzig Jahren auf dem Platz. „Jetzt, da<br />

ich älter bin, ist das meine Familie“, sagt<br />

Ryan. „West 4th Street ist mein zweites<br />

Zuhause. Mein Hinterhof.“<br />

Der Platz ist eine Gemeinschaft<br />

Das mag seltsam klingen, denn das Spiel<br />

ist so körperbetont, dass es sich an der<br />

Gleich geht’s los: Zwei Spieler der New Yorker Männerliga sind bereit für das Spiel.<br />

Alle Animositäten verpuffen<br />

in dem Moment, in dem sich alle<br />

zum nächsten Match versammeln.<br />

Grenze zu offener Feindseligkeit bewegt.<br />

Nach einigen Schlägereien hat Kenny<br />

Graham Nulltoleranzregeln aufgestellt.<br />

Wer gegen sie verstößt, kann des Platzes<br />

verwiesen werden.<br />

Aber es gibt eine große Wertschätzung<br />

zwischen den Spielern. Alle mühsam<br />

erarbeiteten, liebevoll gehegten Animositäten<br />

verpuffen in dem Moment,<br />

in dem sich alle zur nächsten Runde,<br />

zum nächsten Match versammeln. „Bei<br />

aller Härte herrscht ein unglaublicher<br />

Kameradschaftsgeist“, sagt Jason Curry.<br />

„Jedem, der auf den Platz geht, wird<br />

Respekt entgegengebracht.“ Die Leute<br />

passen aufeinander auf.<br />

Die Spiele im Käfig sind für viele ein<br />

wichtiger Teil ihres Lebens. 70 Teams<br />

treten hier in Ligen gegeneinander an: je<br />

20 für Männer und High-School-Schüler,<br />

16 für Frauen, 14 für Nachwuchsteams.<br />

Graham, heute 69, zeigt keine Ermüdungserscheinungen,<br />

obwohl er erklärt,<br />

im Ruhestand zu sein. Im West 4th, so<br />

sagt er, „sieht man die Früchte meiner<br />

Arbeit“. Im Moment versucht er, die<br />

Magie dieses Ortes, die multikulturelle<br />

Mischung des Käfigs in die Welt hinauszutragen.<br />

Er arbeitet mit Offiziellen<br />

aus der Dominikanischen Republik an<br />

einem Austauschprogramm.<br />

Für ihn war das während der Pandemie<br />

vielleicht auch ein guter Zeitvertreib.<br />

Bald jedoch wird alles wieder<br />

so sein wie früher: Die Spieler werden<br />

auftauchen, so verlässlich, dass man die<br />

Uhr nach ihnen stellen könnte. Die Fans,<br />

die während der Summer Leagues Abend<br />

für Abend denselben Platz am Zaun<br />

besetzen, werden ihre Posten wieder<br />

einnehmen.<br />

Den Käfig gibt es jetzt schon so lange,<br />

dass er Teil von Familien geschichten<br />

geworden ist: Generationen kommen<br />

gemeinsam. Eltern reichen die Erfahrung<br />

des Spielens oder Zuschauens im West<br />

4th wie ein Erbstück feierlich an ihre<br />

Kinder weiter. Der Platz ist also noch etwas:<br />

eine Zeitkapsel.<br />

Mit den Jahrzehnten verändert sich<br />

Manhattan, es verwandelt sich immer<br />

wieder, nimmt ständig neue Formen an.<br />

Gebäude werden abgerissen und gebaut,<br />

Restaurants wechseln den Besitzer und<br />

die Identität, Parks verwahrlosen und<br />

werden wiedergeboren.<br />

Aber dieses kleine Rechteck, das da<br />

irgendwie in Greenwich Village hineingequetscht<br />

wurde? Dieser Käfig, so scheint<br />

es, ist für die Ewigkeit.<br />

60 THE RED BULLETIN

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