18.08.2021 Aufrufe

The Red Bulletin 09/21 AT

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Fashion<br />

P<br />

Prolog<br />

Flora Miranda macht einen Schritt zurück. Noch einen.<br />

Sie braucht Distanz, um sich näherzukommen. Sie betrachtet<br />

das feinmaschige Netz, das in ihrem Atelier<br />

hängt. Zweieinhalb Meter ist es hoch, eineinhalb breit.<br />

Jetzt neigt sie den Kopf leicht nach links, tritt wieder<br />

näher. Mit einer Spachtel streicht sie über die Fläche,<br />

trägt mit Farbe vermischtes Silikon auf. „Diese Technik<br />

habe ich selbst entwickelt“, sagt Flora.<br />

Flora Miranda ist Modedesignerin von Beruf, aber<br />

eigentlich ist sie Visionärin, zu Hause an der Schnittstelle<br />

von Mode und Kunst. Sie ist 1990 in Salzburg in<br />

eine Künstlerfamilie geboren worden, lebt aber jetzt im<br />

belgischen Antwerpen. 2016 wird sie bei den Austrian<br />

Fashion Awards von einer internationalen Jury mit<br />

dem „Outstandig Artist Award“ ausgezeichnet: „Sie<br />

erschafft“, befand die Jury, „eine gänzlich neue, vom<br />

Experiment mit Materialien, Produktionstechniken<br />

und Verfahren inspirierte Mode-Utopie.“<br />

Ihr Zugang sei eine Art interdisziplinäre künstlerische<br />

Grundlagenforschung für die Zukunft der Mode:<br />

„So bringt sie eine gänzlich neue Ästhetik mit überraschender<br />

visueller Wirkung hervor, die in der vom<br />

Zitat dominierten Modewelt eine originäre, eigenständige<br />

Position einnimmt.“<br />

Das Silikon tropft für einige Stunden. Alles fließt.<br />

Sackt ein paar Zentimeter nach unten, findet seinen<br />

Weg auf dem Netz, „ziemlich unkontrolliert“, sagt die<br />

Künstlerin. Jetzt spachtelt sie ihr Gesicht, ein Selbst­<br />

porträt. Sie sieht ernst aus. Noch aber ist sie nicht fertig.<br />

„Den Mund musste ich dreimal malen. Weil alles fließt,<br />

war er anfangs zehn Zentimeter unterhalb der Stelle, an<br />

der er eigentlich sein sollte.“<br />

Die Arbeit an dem Bild streamt Flora über Instagram.<br />

„Es ist ein Ausdruck dieser Zeit, in der man mit sich<br />

selbst konfrontiert ist wie niemals zuvor. Man sieht nur<br />

sich selbst, gleichzeitig ist es eine Erinnerung an die<br />

Außenwelt.“<br />

Wochen später postet Flora ein Bild aus der arabischen<br />

Ausgabe der Modezeitschrift „Harper’s Bazaar“.<br />

Ihr Selbstporträt ist dort Teil einer sonnenuntergangsorangen<br />

Fashion-Inszenierung, und Flora sieht darauf<br />

aus wie eine selbstbewusste Fee aus einem futuristischen<br />

Märchen.<br />

Außerdem vereint das Bild alles, was der 30-jährigen<br />

Designerin für ihre Arbeit wichtig ist: Mode und Kunst,<br />

Vergangenheit und Zukunft, Kontinuität und Veränderung<br />

– vor allem Veränderung oder präziser: Transformation,<br />

Verwandlung. Wobei jeder dieser Begriffe die<br />

anderen braucht, weil sie alle Floras Welt ausmachen.<br />

Oder wie sie selbst sagt: „Meine Kleider sind die Sammlung<br />

meiner Gedanken.“<br />

Hier erzählt sie selbst ihre Geschichte; erklärt, warum<br />

sie sich intensiv mit Programmieren beschäftigt,<br />

und teilt eine Mode-Vision, die dermaßen Science­<br />

Fiction zu sein scheint, dass man sie erst mit einem<br />

ungläubigen Lächeln vernimmt, bevor man sich fasziniert<br />

in Floras Fantasien wiederfindet.<br />

Kapitel 1: Jeder ist ein Alien<br />

„Ich habe schon mit vier Jahren bei Ausstellungen geholfen,<br />

Keilrahmen für Bilder zusammenzuhämmern.<br />

Später bin ich mit meinem Vater zu Künstlerresidenzen<br />

(Plätze für kreatives Arbeiten, Anm.) gereist. Wir haben<br />

dort gemeinsam viel Zeit verbracht. Aufgewachsen bin<br />

ich in Salzburg – in einer Familie, in der Kunst ganz<br />

wichtig ist. Ich bin sehr froh über diesen Reichtum,<br />

den ich da mitbekommen habe.<br />

Mein Vater (Wolfgang Seierl, Anm.) hat Gitarre und<br />

Malerei studiert und organisiert seit Jahren das KomponistInnenforum<br />

Mittersill – ein Festival, das dem Komponisten<br />

Anton Webern gewidmet ist. Als Kind habe ich<br />

dort Kabel getragen, als Jugendliche das Essen serviert.<br />

„Meine Kleider sind die<br />

Sammlung meiner Gedanken.“<br />

THE RED BULLETIN 65

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!