Streetball einmal 44 Punkte. Als ihn ein Freund darauf ansprach, antwortete er: „Wer ist Phil Sellers?“ Von dem Hall-of-Fame- Mitglied Chris Mullin, auch eine New Yorker Basketball-Legende, ist das Statement überliefert, Black Jack sei der beste Werfer, den er außerhalb der NBA je gesehen habe. Hier im West 4th umgab Ryan eine Familie, das spürte er. Hier war Beständigkeit: Dass der Punktezähler Omar vor den Spielen immer viel zu viel billiges Bier trank und sich prompt verzählte, sodass Graham ihn korrigieren musste, änderte nichts daran, dass Omar weiterhin für die Punkte verantwortlich blieb. Ryan gefiel das. Die Sticheleien des Sprechers, der ballettgleiche Wettkampf, Kenny Grahams strenge Regeln gegen Gewalt – das alles sorgte für Stabilität in einer sonst völlig instabilen Welt. Jack Ryan war MVP („most valuable player“ – der wertvollste Spieler) in einer der Ligen, auf seiner Wade prangt ein Tattoo des West-4th-Logos. Und er trifft sich immer noch mit Leo, Sherm, Doc – all den Männern, mit denen er Freundschaft geschlossen hat in seinen fast vierzig Jahren auf dem Platz. „Jetzt, da ich älter bin, ist das meine Familie“, sagt Ryan. „West 4th Street ist mein zweites Zuhause. Mein Hinterhof.“ Der Platz ist eine Gemeinschaft Das mag seltsam klingen, denn das Spiel ist so körperbetont, dass es sich an der Gleich geht’s los: Zwei Spieler der New Yorker Männerliga sind bereit für das Spiel. Alle Animositäten verpuffen in dem Moment, in dem sich alle zum nächsten Match versammeln. Grenze zu offener Feindseligkeit bewegt. Nach einigen Schlägereien hat Kenny Graham Nulltoleranzregeln aufgestellt. Wer gegen sie verstößt, kann des Platzes verwiesen werden. Aber es gibt eine große Wertschätzung zwischen den Spielern. Alle mühsam erarbeiteten, liebevoll gehegten Animositäten verpuffen in dem Moment, in dem sich alle zur nächsten Runde, zum nächsten Match versammeln. „Bei aller Härte herrscht ein unglaublicher Kameradschaftsgeist“, sagt Jason Curry. „Jedem, der auf den Platz geht, wird Respekt entgegengebracht.“ Die Leute passen aufeinander auf. Die Spiele im Käfig sind für viele ein wichtiger Teil ihres Lebens. 70 Teams treten hier in Ligen gegeneinander an: je 20 für Männer und High-School-Schüler, 16 für Frauen, 14 für Nachwuchsteams. Graham, heute 69, zeigt keine Ermüdungserscheinungen, obwohl er erklärt, im Ruhestand zu sein. Im West 4th, so sagt er, „sieht man die Früchte meiner Arbeit“. Im Moment versucht er, die Magie dieses Ortes, die multikulturelle Mischung des Käfigs in die Welt hinauszutragen. Er arbeitet mit Offiziellen aus der Dominikanischen Republik an einem Austauschprogramm. Für ihn war das während der Pandemie vielleicht auch ein guter Zeitvertreib. Bald jedoch wird alles wieder so sein wie früher: Die Spieler werden auftauchen, so verlässlich, dass man die Uhr nach ihnen stellen könnte. Die Fans, die während der Summer Leagues Abend für Abend denselben Platz am Zaun besetzen, werden ihre Posten wieder einnehmen. Den Käfig gibt es jetzt schon so lange, dass er Teil von Familien geschichten geworden ist: Generationen kommen gemeinsam. Eltern reichen die Erfahrung des Spielens oder Zuschauens im West 4th wie ein Erbstück feierlich an ihre Kinder weiter. Der Platz ist also noch etwas: eine Zeitkapsel. Mit den Jahrzehnten verändert sich Manhattan, es verwandelt sich immer wieder, nimmt ständig neue Formen an. Gebäude werden abgerissen und gebaut, Restaurants wechseln den Besitzer und die Identität, Parks verwahrlosen und werden wiedergeboren. Aber dieses kleine Rechteck, das da irgendwie in Greenwich Village hineingequetscht wurde? Dieser Käfig, so scheint es, ist für die Ewigkeit. 60 THE RED BULLETIN
Hier teilen sich zwei Schüler mannschaften den Platz, der viel kleiner ist als ein normales Basketballfeld. Fast jedes Match ist intensiv, aber der Höhepunkt sind die All-Star-Games – wie hier im Bild: Da spielen die Besten der Saison gegeneinander. THE RED BULLETIN 61