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The Red Bulletin 09/21 AT

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B O U L E V A R D D E R H E L D E N<br />

über die sie nicht gelacht hätten. Schließlich habe er<br />

Bobby Fischer an das Geschenk, nämlich dieses alte<br />

Schachspiel, erinnert.<br />

Das erste Spiel – noch auf Dylans Brett übrigens –<br />

sei nichts weiter gewesen als ein Nachstellen der<br />

Welt meisterschaftspartie Fischer gegen Spasski 1972.<br />

Dylan kannte die Partie auswendig, und Fischer erinnerte<br />

sich auch noch recht gut. Dylan fragte, ob es<br />

unbescheiden wäre, wenn er seine Interpretationen<br />

dazu abgäbe, und Fischer hörte aufmerksam zu.<br />

Er gehe davon aus, sagte Dylan, so jedenfalls<br />

offenbare sich ihm diese Partie, dass Fischer schon<br />

nach den ersten acht bis zehn Zügen das Ende geahnt,<br />

wenn nicht sogar schon vorausberechnet habe. Die<br />

Partie ähnle in ihrem Aufbau einem Spielfilm aus den<br />

dreißiger Jahren – eine überlange, flach ansteigende<br />

Exposition, die plötzlich zum Höhepunkt aufschnellt<br />

–, nämlich dort, wo Spasski seinen Springer zu opfern<br />

glaubt, in Wahrheit jedoch sowohl den Springer verliert<br />

als auch in der Folge den Turm blockiert, und das<br />

Ganze, ohne Fischers Königsbauern zur Deckung der<br />

Dame zu zwingen, wie Spasski es vermutlich geplant<br />

hatte. Von da an, so Dylan, nehme die Partie einen<br />

auch für den Laien voraussehbaren Verlauf, der zwar<br />

kürzer, aber ähnlich flach abfalle, wie die Exposition<br />

aufgestiegen sei. Zum Schluss: ein einfaches Matt<br />

ohne Schnörkel.<br />

Bobby Fischer gab ihm recht.<br />

Dylan war begeistert – von der Partie und von<br />

seiner Interpretation – und fragte, ob Fischer ihn zur<br />

Gitarre singen hören wolle.<br />

Loggie, der die beiden die ganze Zeit schweigend<br />

betrachtet hatte, bat Dylan um den Vorzug, die<br />

Gitarre aussuchen zu dürfen. Er ging ins Haus<br />

und atmete erst eine Weile tief durch. Die Gitarren<br />

waren überall verstreut, lagen auf einem Sofa und auf<br />

dem Küchentisch, im Schlafzimmer neben dem Bett<br />

standen gleich vier E-Gitarren, merkwürdigerweise<br />

war aber kein Verstärker da. Er entschied sich für eine<br />

alte Gibson, er meinte, die würde gut zu dem alten<br />

Schachbrett mit den alten Figuren passen, das Bobby<br />

Fischer mitgebracht hatte. Dylan hatte das Instrument<br />

zu irgendeinem früheren Geburtstag von irgendjemandem<br />

geschenkt bekommen, es hatte irgendwann<br />

irgendeinem Bluesmusiker gehört, Loggie hatte vergessen,<br />

wie der Musiker hieß.<br />

Dylan spielte ein altes Lied und ein neues –<br />

„To Ramona“ und „Dark Eyes“. Fischer habe zugehört,<br />

die Beine weit von sich gestreckt, die Hände über dem<br />

Gürtel gefaltet, die Augen geschlossen. Da sei alles<br />

noch wunderbar gewesen.<br />

„Bob Dylan spielte schnell<br />

und nachlässig, es war ja<br />

nur eine Formsache.“<br />

Aber dann forderte Bobby Fischer Bob Dylan zu<br />

einer Partie auf – so war es ausgemacht –, und zwar<br />

auf ebenjenem alten Brett mit den abgegriffenen<br />

Figuren. Dylan habe Weiß gezogen und die Partie<br />

begonnen. Er habe schnell und nachlässig gespielt,<br />

es sei ja nur eine Formsache gewesen, so sah es auch<br />

Loggie. Eine Ehrensache, nichts Ernsthaftes, und es<br />

sei auch nicht zu erwarten gewesen, dass mehr als<br />

eine Partie gespielt werden würde und dann vielleicht<br />

noch Revanche.<br />

Fischer allerdings habe sich auf jeden Zug kon zentriert.<br />

Es sei zwar keine Zeit ausgemacht worden, aber<br />

er habe bei jedem Zug mehrere Minuten verstreichen<br />

lassen, und Loggie dachte noch, es sei zwar anständig<br />

von dem Großmeister, dass er seinen Gegner nicht<br />

gleich vom Brett putzte; aber es kam ihm doch irgendwie<br />

kindisch vor, mit wie viel Anstrengung er diese<br />

Anständigkeit vorführte.<br />

Um es kurz zu machen: Dylan gewann die Partie.<br />

Gefreut habe er sich darüber nicht. Gewundert habe<br />

er sich. Beide hätten sich gewundert. Und Loggie<br />

wunderte sich auch. Die Stimmung sei nicht mehr<br />

so besonders gewesen.<br />

„Das ist ein Geburtstagsgeschenk wie eine Kaugummiblase“,<br />

sagte Dylan. „Solange man sie für Vollgummi<br />

hält, durchaus imponierend.“<br />

Fischer versicherte, er habe ihn nicht absichtlich<br />

gewinnen lassen, im Gegenteil, er habe Dylan<br />

sogar bis zu den letzten vier Zügen zu jener Partie<br />

gezwungen, die Bogoljubow und Reti 1925 in Baden-<br />

Baden gespielt hätten. Einen Gegner zu einem bestimmten<br />

Spiel zu zwingen sei bei weitem schwieriger,<br />

als ein Spiel zu gewinnen. Erst beim viertletzten Zug<br />

sei Dylan ausgebrochen, und er, Fischer, habe vermutet,<br />

Dylan wolle ein Erstickungsmatt anstreben in der<br />

Art von Budrich gegen Gumprich 1950, und er habe<br />

sich rundum darauf eingestellt und dann …<br />

„Ich bin ein Naiver“, sagte Dylan.<br />

Mehr sagte er nicht.<br />

Loggie stellte erneut die Figuren auf und drehte<br />

das Brett um.<br />

Dylan gewann wieder. Er wurde zornig. Diesmal<br />

habe er sogar saumäßig gespielt, sagte er.<br />

Fischer sagte gar nichts. Er schaute auch niemanden<br />

an. Dylan nicht, Loggie nicht. Nur das Schachbrett<br />

schaute er an.<br />

„Vielleicht liegt es an den Figuren und an dem<br />

schlechten Licht“, sagte Loggie. Er habe es ja nur<br />

gut gemeint – reden, reden, locker sein, habe er sich<br />

gedacht, wenn ich als das Arschloch aussteige, ist<br />

alles gut. „Bei diesem schlechten Licht kann es doch<br />

pas sieren, dass sich der eine oder andere bei den<br />

Figuren vergreift und anstatt Schwarz Weiß zieht<br />

oder umgekehrt.“<br />

„Was heißt hier der eine oder der andere?“, fragte<br />

Dylan, ziemlich scharf, den Kopf gesenkt, die Augen<br />

blitzend. „Und wer, bitte, ist hier der eine und wer<br />

der andere?“<br />

94 THE RED BULLETIN

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