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Bretter - ORF

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Over an over, bei Mila gibt es kein Happy End. Mila schaut sich ihre Finger an. Sie erinnert sich an<br />

den Film „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Die Teenager im Film tätowieren sich Sterne mit Tinte unter<br />

ihre Haut. Mila probiert es auch. Sie nimmt eine Nähnadel, tränkt einen Faden mit Tinte und beginnt<br />

am Ringfi nger mit dem ersten Einstich. Mila kippt einen Mastika runter, dreht die Musik lauter und<br />

macht weiter. Die Tränen in ihren Augen verwandeln sich in ein Meer und wandern, plagen sich<br />

über ihr Gesicht und ihren Hals in ihr Dekollete. Sie weiß nicht, was ihr mehr Schmerzen bereitet<br />

– der blutende Finger oder ihr zerfl eddertes Herz. Stolz betrachtet sie den verkrüppelten Stern, der<br />

anstelle eines Freundschaftsringes ihre grobe Hand ziert. Mila schenkt einen Mastika nach und<br />

zündet eine Zigarette an, die ihre Tante da gelassen hat. Sie schreibt ihr ein sms nach Bugarien.<br />

Nevena antwortet nicht, wahrscheinlich hat sie kein Guthaben.<br />

Mila fühlt sich gelangweilt und einsam, ohne Aufgabe und ohne Berechtigung zu leben. Keine Arbeit,<br />

keine Freunde, keine Familie. Mila geht über den Naschmarkt. Ein paar Leute verkaufen alte Sachen,<br />

nichts als Ramsch. Sie kauft sich ein Eis und beobachtet das Geschehen. Sie geht nach Hause, nimmt<br />

alle DVDs, die der verlogene Idiot bei ihr gelassen hat und trägt sie auf den Markt. Vom Markt nimmt sie<br />

70 Euro heim. Es ist Samstag und alle Geschäfte sind schon geschlossen. Mila hat kein Brot mehr, keine<br />

Milch und keinen Kaffee. Sie fährt zum Südbahnhof und geht einkaufen. Eurolines – genau, das war<br />

doch der Bus von Nevena. Am Schalter fragt sie, was eine Karte nach Sofi a kostet. Ja, sie will eine. Ja, für<br />

heute. Mila geht zum Busparkplatz und setzt sich mit ihrem Einkauf in den leeren Bus nach Sofi a.<br />

Der Busfahrer starrt sie an. „Bagazha?“ Nein, sie hat kein Gepäck. Nein, sie wohnt in Bulgarien und<br />

war nur zu Besuch in Wien. Ja, so ist das. Kein Gepäck.<br />

Mila fühlt sich gut in ihrer neu erfundenen Lebensgeschichte. Entspannt lehnt sie sich zurück und<br />

wirft sich Brotkugerl in den Mund. Sie kontrolliert noch einmal, ob sie ihren Pass dabei hat. Perfekt.<br />

Seit sie mit den Fluchtgedanken spielt, trägt sie ihr rotes Reisedokument stets bei sich. In Ungarn<br />

kauft sie sich an der Grenze Zigaretten. In Serbien trinkt sie in einem Restaurant an der Straße einen<br />

starken türkischen Kaffee mit viel Zucker und in Sofi a übergibt sie sich am Busbahnhof. Mila bricht<br />

in Panik aus. Sie ist allein. Alles um sie ist fremd. Sie versteht fast nichts und kann nichts lesen. Die<br />

<strong>Bretter</strong> der Welt in einem bulgarischen Zirkus – der Busbahnhof erinnert eher an ein Erdbeben, aber<br />

nicht an eine Zauberwelt. Mila ist zu tiefst enttäuscht von sich selbst. Wieso hat sie das gemacht? So<br />

absolut plan- und kopfl os. Idiotin.<br />

Ein Taxifahrer spricht sie an. Pfff, in dem Zustand soll sie auch noch das bisschen Bulgarisch in<br />

ihrem Kopf zusammenkratzen?! „Nemski, deutsch or english!“ Er nickt, saugt an seiner Zigarette wie<br />

Tante Nevena und trottet tief beeindruckt davon. Ein gelbes rostiges Taxi hält wenig später neben<br />

Mila. Ein junger Bulgare kurbelt mit beiden Händen das Fenster auf der Beifahrerseite runter und<br />

erklärt, dass er Plamen heißt und in Wien gelebt hat. Super, noch ein Warmduscher. Bitte keine<br />

Anmachsprüche. Mila reibt sich die Augen, atmet tief durch und fragt nach einem Bus nach Ruse.<br />

Plamen möchte ihr Taxi sein. 30 Euro. Sie möchte aber nicht, dass Plamen ihr Taxi ist. Sie hat kein<br />

Geld und keine Kraft. Ihr ist übel, sie hat Durst und ist traurig. Plamen steigt aus und lädt Mila auf<br />

einen Kaffee ein.<br />

Plamen erzählt ihr von seinem illegalen Aufenthalt in der Glitzerwelt Westeuropas. Europa glitzert<br />

nur aus der Ferne. Wenn man um die Erde fl iegt, leuchtet es fast bis ins Unendliche, aber aus der<br />

Nähe staubt und beißt es. Ja, Mila kennt dieses Gefühl, alles beißt sie momentan.<br />

Drei Stunden später sitzt sie in Plamens Auto, das sie nach Ruse bringt. Mila ist müde und<br />

verschwitzt. Plamen ist charmant und männlich. Er riecht gut. Zigaretten raucht er, als würde er mit<br />

jedem Zug eine Geschichte weitererzählen, als sänge er ein Schlafl ied. Aus seinem Mund sprudelt<br />

ein perlmutfarbener Schleier, in den tausende von Erlebnissen eingewoben werden. Mila betrachtet<br />

ihn von der Seite und genießt die Fahrt. Manchmal dreht sie ihren Kopf Richtung Fenster – Felder,<br />

Berge, Schafhirten, Straßenhunde, Plattenbauten, Feigenbäume. Jede Sekunde beginnt eine neue<br />

Geschichte. „Du lächelst“, sagt Plamen zufrieden und hält bei einem Gasthof. „Ich habe Hunger.“<br />

Mila ist eingeladen worden – Rosenmarmelade, Palatschinken mit Feigen, seltsame Gewürze und<br />

guter Wein. Plamen setzt sich auf einen Stein und wutzelt einen Joint zwischen seinen Fingern. „Wir<br />

können in meinem Auto übernachten“, sagt er und zündet die „Nachspeise“ an. Mila macht das<br />

Radio lauter und schaut ihm zu. „Kannst du singen?“, fragt sie ihn. Er will nicht. „Warum bist du so<br />

caje sukarije – Tanz, schönes Mädchen!<br />

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