Bretter - ORF
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Nicholas Unger<br />
geboren 1981 in Wien, wächst mit Unterbrechungen am Wiener Stadtrand auf. Nach seiner<br />
Matura 1999 in Wien folgt ein munteres Wechseln der Studienrichtungen (Anglistik, Politik-<br />
und Theaterwissenschaften), bevor ihn seine Leidenschaft für das Kino an die Filmschule Wien<br />
verschlägt, wo er von 2001 bis 2003 eine Ausbildung zum „Filmschaffenden” absolviert. Das dort<br />
erworbene dramaturgische Basiswissen versucht er seither in kurzen wie längeren Geschichten<br />
sowie Drehbüchern zu trainieren. 2004 gewinnt eine Kurzgeschichte über eine jenseitige Begegnung<br />
zwischen Gott und Peter Ustinov den „Preis für muttersprachliche Autoren” des Vereins Exil. Seit<br />
dem 1. Juni 2005 ist er als Zivildiener beschäftigt und hofft danach irgendwann einen bescheidenen<br />
Platz in einer Ecke der Literaturindustrie fi nden zu können.<br />
bretter<br />
„Fürwahr, zuerst entstand das Chaos, aber danach die Erde ...“<br />
Hesiod, Theogonie 116<br />
Eine Woche vor der Premiere stellten sich diese Schauspieler immer noch wie grunzende Primaten<br />
an, die gerade vom Baum gefallen waren und nun ein Pas de deux tanzen sollten.<br />
Krampfhaft, mit aller Mühe, die aus einer Menschenseele gewrungen werden kann, versuchten<br />
sie ihre Emotionen unter Kontrolle zu bringen, aber insgesamt schienen sie zu überrascht zu sein,<br />
überhaupt welche in sich vorzufi nden.<br />
„Dabei sollte doch gerade einen Künstler so etwas nicht aus dem Konzept werfen, oder?“<br />
Finn hörte mich nicht, weil er die Dekoration für die Schluss-Szene, die an einem gewaltigen Strang<br />
aus Drahtseilen hing, wieder zu uns nach oben zog. Seine Stirn und seine Wangen hatten inzwischen<br />
die Farbe von Tomaten angenommen, während sein Hals zu zerreißen und sein Bizeps gleich durch<br />
seinen Overall zu platzen schien. Ich dankte Gott dafür, dass ich derjenige von uns beiden war, der<br />
die Hirnarbeit zu verrichten hatte, bis er mir mit einem verzweifelten Nicken deutete, doch bitte<br />
endlich das Tau zu befestigen.<br />
Es war die Arbeit, die man einem Zehnjährigen zumuten sollte: um den Strang zu sichern, klemmte<br />
man ihn in eine Zange am Arm eines Flaschenzugs. Per Knopfdruck öffnete und verschloss sich die<br />
Zange und die Dekoration hing entweder acht Meter über der restlichen Kulisse oder schnellte bis<br />
zu einem genau berechneten Punkt aus dem Himmel hinunter.<br />
Als die letzte Probe begann, lehnten wir zusammen über den Kostümierten und schnippten unsere<br />
Glut auf ihre Köpfe hinab. Ich tat mir bereits schwer, mich des Inhalts des Stückes zu entsinnen,<br />
wusste aber, dass es die Presse für eine Parabel zur aktuellen neoliberalen Wirtschaftswelt zu halten<br />
hatte.<br />
Das ganze Jahr hatte ich Finn noch nicht so schwitzen gesehen, dabei arbeiteten wir zum ersten Mal<br />
mit diesem neuartigen Supergerüst, das tatsächlich alle Stücke spielte.<br />
„Was hältst du von dem Ding“, fragte er, während uns eine süßlich duftende Wolke umgab und<br />
ich darüber nachdachte, wieder erfolgreich zwei Millionen Spermien in mir abgetötet zu haben.<br />
Ich beäugte die Konstruktion so fasziniert, als würde eine Sternschnuppe zwei Meter über meinem<br />
Kopf vorbeiziehen, zog an unserem Glimmstängel und meinte dann: „Wenigstens ist man hier oben<br />
immer noch ungestört.“<br />
Ich hatte mich wie immer aus den Diskussionen herausgehalten, während die restliche Belegschaft<br />
auf die Barrikaden gegangen war. Ich wusste nicht, was es bringen sollte, im Takt der Revolution<br />
zu schlagen, schließlich brauchten wir alle, inklusive der Hauptrollen und der Regie, das Geld<br />
und waren daher dem Willen des neuen Staatstheaterdirektors ausgeliefert, den wir von unserem<br />
Arbeitsplatz aus im Publikumsraum gähnen sehen konnten. Während Finn und die anderen Neuen<br />
sich über seine Ungerechtigkeiten erregt hatten, als wäre auf der Bühne mit echten Patronen ein<br />
Menschenopfer gebracht worden, wunderte mich überhaupt nichts mehr. Wer acht Jahre in diesem<br />
Beruf war, wusste nur zu gut, dass das wahre Lustspiel hinter den Kulissen stattfand.<br />
Dieses riesige „Ding“, das wir gerade befestigt hatten, um es am Ende der folgenden Probe noch einmal<br />
hinunterzulassen, sah aus wie das Beil einer felsernen Guillotine. Die ganze Idee dazu war ein<br />
so gehirnverwichster Action-Gag, dass erst Finn mir erklären musste, dass es das versteinerte Herz<br />
bretter<br />
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