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Bretter - ORF

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Herrn Ranter ganz besonders. Ich erinnere mich noch ein bisschen an den Tag, als Herbert mit<br />

blutiger Nase die Siedlungsstrasse herauf gelaufen kam. Das Blut war nicht schlimm, viel schlimmer<br />

war die Wut ihn ihm – er trat gegen jeden Laternenmasten und kickte die Kieselsteine, die vor ihm<br />

lagen, von der Strasse. Er wollte nicht erzählen, was passiert war, aber dass etwas passiert war, war<br />

nicht zu übersehen. Auch Herrn Ranter ist das nicht entgangen. Er ist gerade von der Tischlerei<br />

nach Hause gekommen. Herbert hat noch einmal gegen den Laternenmasten der Siedlung getreten<br />

und ausgespuckt. Wenige Zentimeter vor ihm ist Herr Ranter stehen geblieben und hat ihn lange<br />

angesehen. Keiner von beiden hat etwas gesagt. Sicher eine Minute lang. Danach hat Herr Ranter<br />

genickt und gesagt „Kommst morgen zu mir in die Werkstatt.“ – es war keine Frage und Herbert hat<br />

auch nicht geantwortet. Es war einfach eine Feststellung. Niemand von uns weiß, was ihm der Herr<br />

Ranter am nächsten Tag gesagt hat aber seit diesem Tag ist der Herbert nie mehr mit einer blutigen<br />

Nase nach Hause gekommen. Und einmal in der Woche ist er in die Werkstatt vom Herrn Ranter<br />

gegangen. Wenn wir ihn gefragt haben, was er dort macht, hat er gesagt „<strong>Bretter</strong> bearbeiten“. Wir<br />

haben darüber nur gelacht, wenn der Herbert nicht dabei war.<br />

„Mama, woran denkst du?“, fragt Lisa. Meine Mutter sieht mich kopfschüttelnd an. Ich gebe der Lisa<br />

die Löffel in die Hand, damit sie den Tisch für uns drei decken kann. Manchmal wundere ich mich,<br />

dass sie immer pünktlich zum Essen zu Hause ist und nicht gerufen werden muss – als ich noch<br />

klein war, hat mich meine Mutter immer gerufen, wenn das Essen schon am Tisch gestanden ist und<br />

selbst dann bin ich oft so spät gekommen, dass alles bereits kalt war. Das lag aber vielleicht auch an<br />

dem Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir.<br />

Der Herbert ist einer von denen, die gar nicht mehr nach Hause kommen. Als ich so etwa 14 Jahre<br />

alt war, hat er mir einmal gut gefallen. Einen ganzen Sommer lang bin ich überall dort hingegangen,<br />

wo er auch hingegangen ist. Er hat mir gefallen, weil er im Gegensatz zu den anderen nicht viel<br />

geredet hat. Für Mädchen hat er sich nie interessiert – weder damals noch später. Trotzdem habe ich<br />

immer versucht, mit ihm zu reden. Im Schwimmbad bin ich immer dann aufs WC gegangen, wenn<br />

er sich beim Kiosk ein Eis gekauft hat, nur damit ich ihn kurz anlächeln kann. Ich weiß nicht, ob er<br />

es bemerkt hat und am Ende des Sommers hat mir dann auch eher der Robert gefallen, der damals<br />

schon 16 war und ein Moped hatte. Aber einmal im August bin ich erst spät vom Schwimmbad nach<br />

Hause gegangen. Ich bin eingeschlafen und alle aus der Siedlung haben es lustig gefunden, mich<br />

alleine zurückzulassen. Erst als der Bademeister seine Abschlussrunde gemacht hat, hat er mich<br />

entdeckt. Kopfschüttelnd hat er mich aufgeweckt und nach Hause geschickt. An dem Abend habe<br />

ich mein violettes Haarband vergessen und später nie mehr gefunden. Auf dem Heimweg bin ich<br />

im Dorf bei der Tischlerei vorbeigegangen – ein Fenster war geöffnet und man konnte hören, dass<br />

jemand arbeitete. Ganz langsam bin ich zu diesem Fenster gegangen, um zu sehen, was drinnen<br />

vor sich ging. Und da sah ich ihn – Herrn Ranter. Er war nach vorne gebeugt, und hobelte. Immer<br />

wenn er sich zwischendurch aufrichtete, strich er mit der fl achen Hand über das vor ihm liegende<br />

Brett. Im Hintergrund spielte ein altes Radio Musik. Die Musik kannte ich nicht, aber die Melodie ist<br />

mir auch später noch ab und zu eingefallen – vor allem deswegen, weil Herr Ranter begonnen hat,<br />

mitzusummen. Die Musik war in seinem Kopf.<br />

Ich hebe meinen Kopf und sehe Herrn Ranter durchs Fenster. Er sitzt auf der Gartenbank vor<br />

seinem Haus. Wenn ich ihn jetzt hier vor mir sitzen sehe, weiß ich, dass die Musik in seinem Kopf<br />

weg ist. Marianne Ranter hat meiner Mutter erzählt, dass er am Anfang seiner Pension jeden Tag<br />

ins Dorf gegangen und vor der Tischlerei stehen geblieben ist. Die Tischlerei war etwa zwei Jahre vor<br />

seiner Pension von Martin, dem Sohn des Tischlereigründers, übernommen wurden, da sich der alte<br />

Herr Elbich zurückziehen wollte. An solchen Tagen sei Martin immer aus der Tischlerei gekommen,<br />

um ein paar Worte mit Herrn Ranter zu reden. Hineingelassen hat er ihn nie mehr. Davon wusste<br />

Marianne nur deswegen, weil Martin sie angerufen hatte – er hatte gefragt, ob sie nichts machen<br />

könne, es bräche ihm das Herz, wenn der alte Mann immer zu ihm komme und während er mit ihm<br />

sprach den Blick nicht von der Hobelbank ließ, die er durch die Türe sehen konnte.<br />

Angeblich hat sich Marianne daraufhin ein Herz gefasst und zu ihrem Schwiegervater gesagt: „Jetzt<br />

brauchst den jungen Herrn Elbich nicht mehr zu belästigen, Vater. Du bist immer ein guter Tischler<br />

gewesen, aber die kommen schon ohne dich zurecht.“<br />

Dann hat sich Herr Ranter die Gartenbank vor dem Haus aufgestellt – so, dass er alles überblicken<br />

kann. Und so dass er den seltenen Besucher und früheren Bewohner der Siedlung gut zuwinken<br />

konnte bevor er hinter das Haus verschwindet.<br />

bretter<br />

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