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Wenn einer eine Reise tut... - Adolf-Reichwein-Verein

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uns zu diesem Zeitpunkt mit unserer<br />

Mutter glücklicherweise in unserem<br />

kl<strong>eine</strong>n Ferienhaus auf Hiddensee.<br />

Mein Vater nahm an der Beerdigung<br />

s<strong><strong>eine</strong>r</strong> Mutter in Hessen teil, und als er<br />

nach Hause zurückkehrte, fand er nur<br />

noch das zerstörte Haus vor.<br />

Daraufhin halfen Freya und Helmuth<br />

James von Moltke, ohne zu zögern, ihrem<br />

Freund aus dem Kreisauer Kreis<br />

in dieser Notlage. Sie luden uns sofort<br />

nach Kreisau in ihr Gutshaus ein, in<br />

dem schon andere Flüchtlinge lebten.<br />

Die Familie Moltke bewohnte damals<br />

selbst das Berghaus, das <strong>eine</strong>n knappen<br />

Kilometer vom �Schloss� entfernt<br />

lag.<br />

Während mein Vater in Berlin zurück<br />

blieb, um im Museum für Deutsche<br />

Volkskunde die Abteilung Schule und<br />

Museum weiter aufzubauen, begab<br />

sich m<strong>eine</strong> Mutter mit uns Kindern per<br />

Schiff und Eisenbahn auf die lange<br />

<strong>Reise</strong> direkt von der Insel zu dem<br />

landwirtschaftlichen Gut der Moltkes<br />

im damaligen Schlesien.<br />

Bepackt mit Eingemachtem und frisch<br />

"gemolkenem" vitaminreichen Sanddornsaft<br />

erreichten wir Kreisau im Oktober<br />

1943, das etwa 60 km von<br />

Breslau entfernt lag.<br />

Uns ging es gut in Kreisau. Wir hatten<br />

genug zu essen, das von Bomben<br />

heimgesuchte Berlin war weit weg,<br />

m<strong>eine</strong> Geschwister besuchten die<br />

Dorfschule und ich genoss auf dem<br />

Landgut mein freies Leben als Kleinkind,<br />

liebevoll umsorgt von unserem<br />

ukrainischen Kindermädchen. Auch<br />

auf dem Gut arbeiteten polnische und<br />

ukrainische Zwangsarbeiter, die die<br />

Felder bestellten und das Vieh versorgten.<br />

M<strong>eine</strong> Mutter unterstützte<br />

Freya, die mit dem Verwalter das Gut<br />

fast all<strong>eine</strong> zu führen hatte, bei der Arbeit.<br />

In Freyas beiden Söhnen, die etwa<br />

in unserem Alter waren, fanden wir<br />

unsere Spielkameraden.<br />

Ostern 1945 mussten wir alle vor den<br />

heranrückenden Russen flüchten. In<br />

<strong>eine</strong>m Treck mit mehreren Pferdefuhrwerken<br />

und <strong><strong>eine</strong>r</strong> überdachten<br />

Kutsche für uns sechs Kinder begaben<br />

wir uns zunächst auf den Weg durch<br />

das Riesengebirge, mussten aber<br />

reichwein forum Nr. 15 Juni 2010<br />

15<br />

Pfingsten nochmals nach Kreisau zurückkehren,<br />

wo wir schließlich<br />

schlechtere Erfahrungen mit den Polen<br />

als mit den inzwischen ebenfalls dort<br />

siedelnden Russen machten.<br />

M<strong>eine</strong> ersten Erinnerungen sind Einzelbilder<br />

geblieben. In ihnen kommt<br />

Freya zwar noch immer nicht vor, dafür<br />

aber Einzelheiten aus dem Schloss<br />

und von der Flucht.<br />

Im ersten Bild erkenne ich zwei riesige<br />

dampfende Kessel tief unter mir. Später<br />

erfahre ich, dass auf dem Gut auch<br />

Zuckerrüben verarbeitet wurden. Dass<br />

ich die Kessel aus der Vogelperspektive<br />

sah, liegt vermutlich daran, dass wir<br />

damals so hoch oben im vierten Stock<br />

des Schlosses lebten. Bei unserer ersten<br />

Wiederkehr nach Kreisau 1979 -<br />

wir vier Geschwister hatten diese<br />

Rückreise in unsere gemeinsame Vergangenheit<br />

der Mutter zum 75. Geburtstag<br />

geschenkt - bestiegen wir<br />

trotz der massiven Schäden durch das<br />

teilweise zusammengefallene Dach als<br />

erstes das Schloss. Dabei stellte ich<br />

fest, das ich damals als etwa Dreijährige<br />

zuerst auf irgendetwas Höheres<br />

hinaufgestiegen sein musste, um<br />

überhaupt aus dem Fenster hinausblicken<br />

zu können.<br />

An Freyas Unfall während der Flucht<br />

konnten sich die anderen erinnern: Auf<br />

<strong>eine</strong>m Hügel hinter Grüssau wollte sie<br />

den Pferden <strong>eine</strong> Pause gönnen. Sie<br />

legte <strong>eine</strong>n Stein unter <strong>eine</strong>s der Wagenräder.<br />

Dabei wurde ihr rechter<br />

Ringfinger eingequetscht. Erst als die<br />

Pferde nochmals anzogen, konnte sie<br />

ihren Finger befreien. Es sei nicht<br />

schlimm gewesen, bemerkte Freya<br />

später lediglich dazu.<br />

Ein Bild brannte sich besonders tief in<br />

mein Gedächtnis ein: Ich sehe mich<br />

auf dem Bauch liegend mit dem ausgestreckten<br />

rechten Arm nach <strong>eine</strong>m<br />

Stück Brot greifen. Dicht über mir ist<br />

etwas, das m<strong>eine</strong> Umgebung verdunkelt.<br />

Jahre später schildert mir m<strong>eine</strong><br />

Mutter das Ereignis dazu: Der Treck<br />

hatte <strong>eine</strong> Pause eingelegt. Wir Kinder<br />

verließen für die Frühstückspause unsere<br />

Kutsche. Irgendwann, möglicherweise<br />

ohne Vorwarnung, setzte sich<br />

der Treck wieder in Bewegung, somit<br />

auch unsere Kutsche. M<strong>eine</strong> Mutter<br />

entdeckte mich erst, als ich bereits<br />

unter der Kutsche auf dem Bauch lag.<br />

In letzter Sekunde riss sie mich zwischen<br />

den Rädern hervor. Wir beide<br />

kamen mit dem Schrecken davon.<br />

Im Sommer 1945 mussten wir uns<br />

endgültig von Kreisau und Freya trennen.<br />

Sie verließ Kreisau mit Unterstützung<br />

britischer Militärangehöriger, die<br />

sie mit ihren beiden Söhnen Helmuth<br />

Caspar und Konrad zunächst nach<br />

Berlin brachten, den Schatz ihrer<br />

Briefe im Gepäck, die sie von ihrem<br />

Mann täglich aus Berlin erhalten hatte.<br />

Zuletzt riet er ihr, Deutschland zu verlassen.<br />

Daraufhin übersiedelte sie zu<br />

den Verwandten ihrer Schwiegermutter<br />

nach Kapstadt. Wir machten uns,<br />

wie viele Flüchtlinge damals, 5 Tage<br />

lang in überfüllten Zügen auf den beschwerlichen<br />

Rückweg nach Berlin.<br />

Als ich Freya zehn Jahre später nach<br />

ihrer Rückkehr aus Südafrika in Berlin-Wannsee<br />

erneut begegnete, war<br />

sie noch <strong>eine</strong> Fremde für mich. Aber<br />

wie sie mit ihrer Lebendigkeit und ihrem<br />

Strahlen in unser damaliges noch<br />

immer verdüstertes Leben der 50er<br />

Jahre eintrat, war sie mit ihrem zugewandten,<br />

aufgeschlossenen und fröhlichen<br />

Wesen für uns <strong>eine</strong> Wohltat im<br />

Gegensatz zur deutschen Enge jener<br />

Zeit.<br />

Aber nach wenigen Jahren verließ sie<br />

uns schon wieder. Sie folgte dem<br />

ehemaligen Professor ihres Mannes<br />

aus Breslau, Eugen Rosenstock-<br />

Huessy, in die USA, dem sie 1957<br />

wieder begegnete. Auch ihre beiden<br />

Söhne studierten und arbeiteten<br />

schließlich außerhalb Deutschlands, in<br />

Holland, England, Australien, den USA<br />

und Kanada.<br />

Erst Jahre nach ihrem endgültigen<br />

Weggang aus Deutschland entstand<br />

zwischen Freya und mir allmählich <strong>eine</strong><br />

freundschaftliche Nähe, ursprünglich<br />

hervorgerufen durch m<strong>eine</strong> fotografische<br />

Arbeit, mit der ich ihre Aufmerksamkeit<br />

weckte und <strong>eine</strong>n Zugang<br />

zu ihr fand.<br />

Erste Aufnahmen hatte ich zwar schon<br />

als 14-Jährige in Wannsee von ihr<br />

gemacht, aber m<strong>eine</strong> fotografischen<br />

Fertigkeiten hatte ich erst noch zu er-

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