Wenn einer eine Reise tut... - Adolf-Reichwein-Verein
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Warum finanzierte die Notgemeinschaft<br />
der Deutschen Wissenschaft<br />
[NG], die Vorläuferin der Deutschen<br />
Forschungsgemeinschaft, ein solches<br />
Stipendium? Die NG war <strong>eine</strong> unabhängigeForschungsförderorganisation,<br />
an ihrer Spitze stand der Vorgänger<br />
Beckers im Amt (1917-1918), der<br />
letzte preußische Kultusminister Friedrich<br />
Schmidt-Ott (1860-1956), nicht gerade<br />
ein Freund Beckers. 41 Wie ist der<br />
Zeitablauf zu erklären: noch Mitte Juni<br />
war er mit der Vorbereitung <strong>eine</strong>s<br />
vierwöchigen Sommerkurses in<br />
Prerow (15.7.-15.8.) beschäftigt? 42 Am<br />
1. Juli schrieb er der Mutter von <strong><strong>eine</strong>r</strong><br />
�Einladung� zur Amerikareise; die NG<br />
werde <strong>eine</strong>n Zuschuss geben. 43 Wer<br />
hatte ihn eingeladen � immerhin �kostenlos<br />
<strong>eine</strong> Durchquerung des nordamerikanischen<br />
Kontinents mitzumachen�?<br />
Antworten auf diese und weitere<br />
Fragen geben bisher nicht beachtete<br />
Akten der NG zu <strong>Reichwein</strong>s<br />
Amerikastipendium und -reise, die ich<br />
2008 im Bundesarchiv Koblenz finden<br />
konnte. 44 Sie erlauben es, diese <strong>Reise</strong><br />
und ihre Umstände genauer als bisher<br />
45 darzustellen und ihren Stellenwert<br />
für <strong>Reichwein</strong>s Leben zu bestim-<br />
situm) 3425 <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>) findet sich ein<br />
Schreiben <strong>Reichwein</strong>s, in dem er um ein<br />
Gespräch wegen <strong>eine</strong>m �ziemlich weitreichendem<br />
Projekt� bittet; er erhält am<br />
22.4.26 <strong>eine</strong> Absage (so auch Nachlass<br />
Becker, wie oben, Journal 1926 6797 N.<br />
240). Ob es sich hier schon um <strong>eine</strong> Planung<br />
für die Amerikareise handelt?<br />
41 Das Verhältnis Schmidt-Otts zu Becker<br />
war gespannt (Friedrich Schmidt-Ott, Erlebtes<br />
und Erstrebtes 1860-1950, Wiesbaden<br />
1952, S. 167; Jochen Kirchhoff, Wissenschaftsförderung<br />
und Forschungspolitische<br />
Prioritäten der Notgemeinschaft der<br />
Deutschen Wissenschaft 1920-1932, Diss.<br />
München 2003 (urn:nbn:de:bvb:19-78701),<br />
S. 21f., 69 ff.).<br />
42 Im Brief an Hermberg, wohl 18.6., geht<br />
<strong>Reichwein</strong> ganz sicher von diesem Kurs<br />
aus (Pallat Nr. 63).<br />
43 Pallat Nr. 64.<br />
44 Das Auffinden war mir 2008 im Zusammenhang<br />
der öffentlich bekanntgewordenen<br />
Erforschung der Geschichte der Notgemeinschaft<br />
möglich. Frau Neupert (Bundesarchiv)<br />
war mir dabei sehr behilflich.<br />
45 Amlung S. 194-202; Pallat Nr. 64-84, S.<br />
319-321; Ullrich Amlung �.. in der Entscheidung<br />
gibt es k<strong>eine</strong> Umwege�, Marburg<br />
2003, 3.A., S. 31-35; <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>, Ein<br />
Lebensbild aus Briefen und Dokumenten,<br />
Band II, Kommentar v. Ursula Schulz, München<br />
1974 [zitiert als Schulz], S. 51-56.<br />
reichwein forum Nr. 15 Juni 2010<br />
28<br />
men. Dieser Fund ergänzt die Kenntnisse<br />
über <strong>Reichwein</strong>s Leben und beleuchtet<br />
auch s<strong>eine</strong> berufliche Situation<br />
1926/27 in neuer Weise. 46<br />
Die <strong>Reichwein</strong>akte befindet sich im<br />
Bestand DFG R 73/16828 des Bundesarchivs<br />
Koblenz. Sie erweckt den<br />
Eindruck der Vollständigkeit: 23 Aktenstücke,<br />
angefangen mit der Visitenkarte<br />
des preußischen Kultusministers<br />
Becker vom 30. Juni 1926, auf der er<br />
dem Präsidenten der NG Schmidt-Ott<br />
die Unterstützung <strong>Reichwein</strong>s empfiehlt,<br />
bis zum Brief <strong>Reichwein</strong>s vom<br />
23. Januar 1928, mit dem er der NG<br />
sein Buch �Die Rohstoffwirtschaft der<br />
Erde� übersendet, sowie dem Empfangsbrief<br />
der NG vom 30. Januar<br />
1928. Die aufschlussreichsten Aktenstücke<br />
sind das Bewerbungsschreiben<br />
<strong>Reichwein</strong>s vom 4. Juli 1926, zwei Rechenschaftsbriefe<br />
an die NG vom 19.<br />
September und 9. Dezember 1926<br />
sowie Briefe an Schmidt-Otts Vertreter<br />
v. Schweinitz 47 am 9. Dezember 1926,<br />
an Schmidt-Ott am 2. Januar 1927 und<br />
an v. Schweinitz am 13. März 1927<br />
(Anhang I, Nr. I, III-IV, VI-VIII); insgesamt<br />
enthält die Akte neun Briefe<br />
<strong>Reichwein</strong>s.<br />
Damit kommen zur Zahl der zur Amerikareise<br />
veröffentlichten 20 Briefe und<br />
Postkarten 48 neun; im <strong>Reichwein</strong>archiv<br />
sind zusätzlich ein Telegramm von<br />
amerikanischen Freunden mit hand-<br />
46 <strong>Reichwein</strong> hat zumindest auf der <strong>Reise</strong><br />
ein Tagebuch geführt (<strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>,<br />
Blitzlicht über Amerika, Jena 1930, S. 22),<br />
das wohl bei der Zerstörung s<strong><strong>eine</strong>r</strong> Wohnung<br />
am 23./24.8.1943 verbrannte. Viele<br />
Briefe <strong>Reichwein</strong>s aus den USA sind nicht<br />
erhalten, besonders die an Otto Haase wären<br />
aufschlussreich gewesen.<br />
47 Eberhard v. Schweinitz war der Vertreter<br />
Schmidt-Otts in der Notgemeinschaft (für<br />
1928 belegt bei Kirchhoff, wie Anm. 41, S.<br />
303). Es handelt sich um Hans Eberhard v.<br />
Schweinitz 1886-1953, Reg.Ass., Olt.<br />
(freundliche Auskunft von Hans Christof<br />
Graf Schweinitz 14. 2. 2009); <strong>eine</strong> Akte<br />
über Schweinitz gibt es im Bundesarchiv<br />
Koblenz nicht: freundliche Auskunft von<br />
Frau Neupert.<br />
48 Einige der bei Pallat veröffentlichen<br />
Briefe sind geringfügig gekürzt worden.<br />
Zwei größere Passagen betreffen die Arbeitsmarktchancen<br />
für <strong>eine</strong>n Bekannten der<br />
Familie Schüler (Pallat Nr. 67, RA REICH<br />
166) und die Möglichkeiten für den Bruder<br />
Richard, Teilhaber <strong><strong>eine</strong>r</strong> amerikanischen<br />
schriftlichen Notizen <strong>Reichwein</strong>s vom<br />
16. Oktober/ 23. Oktober 1926 49 und<br />
ein Brief von 22. Oktober 1926 an die<br />
Familie (Anhang I Nr. V) zu finden; zur<br />
Amerikareise gehört auch ein bisher<br />
nicht veröffentlichter Brief an C. H.<br />
Becker vom 22. Juli 1926 (Anhang I<br />
Nr. II) sowie ein Brief an Alfons Paquet<br />
vom 25. Mai 1927 (Anhang I Nr. IX).<br />
II Die Vorgeschichte der <strong>Reise</strong> sowie<br />
die Änderung ihrer Bedingungen<br />
im September 1926<br />
Der Ablauf der Planung und der ersten<br />
Wochen in Amerika gemäß den Akten<br />
der NG ergibt folgendes Bild. 50 Am<br />
Dienstag 30. Juni stellte Becker dem<br />
Präsidenten der NG Geheimrat Friedrich<br />
Schmidt-Ott auf <strong><strong>eine</strong>r</strong> Visitenkarte<br />
<strong>Reichwein</strong> als ehemaligen Mitarbeiter<br />
im Ministerium vor, der �jetzt in s<strong><strong>eine</strong>r</strong><br />
Habilitation in Jena steht ... ich würde<br />
mich freuen, wenn Sie s<strong>eine</strong> Pläne<br />
fördern könnten�. Am Mittwoch 1. Juli<br />
besuchte <strong>Reichwein</strong> Schmidt-Ott in<br />
Berlin und erhielt <strong>eine</strong> �provisorische<br />
Zusage�; 51 am selben Tag unterrichtete<br />
er s<strong>eine</strong> Mutter über �<strong>eine</strong> Einladung<br />
..., am 15. August von New York<br />
aus kostenlos <strong>eine</strong> Durchquerung des<br />
amerikanischen Kontinents mitzumachen.�<br />
Gegenüber der Mutter erweckte<br />
er dabei den Anschein, als ob der Entschluss<br />
zur <strong>Reise</strong> noch offen sei:<br />
�Jetzt liegt die Entscheidung bloß noch<br />
bei mir, ob ich die Volkshochschule<br />
Jena in <strong><strong>eine</strong>r</strong> sehr arbeitsreichen Zeit<br />
für 6 Monate allein lassen will�; 52 tatsächlich<br />
hatte er sich schon entschieden,<br />
53 aber die Formulierung verrät ein<br />
Farm zu werden (Pallat Nr. 73, RA REICH<br />
74, Bl. 22-29).<br />
49 RA REICH 74 Bl. 15-17.<br />
50 Die Angaben im folgenden Abschnitt<br />
stammen, soweit nicht anders vermerkt, jeweils<br />
dem Aktenbestand BArch DFG R<br />
73/16828.<br />
51 Die Zusage ergibt sich aus den nachfolgenden<br />
Briefen an Schmidt-Ott und die<br />
Notgemeinschaft vom 4. Juli. Das Datum<br />
des Besuchs bei Schmidt-Ott ergibt sich<br />
aus dessen Eintrag in sein Arbeits- und Tagebuch<br />
zum 1. Juli (GehStA Pr. Kulturbesitz<br />
VI Schmidt �Ott (D) 1200 Arbeits- und<br />
Tagebuch 1926-28).<br />
52 Pallat Nr. 64.<br />
53 Otto Haases Version der Vorgeschichte<br />
erweckt den Eindruck längerer Planung<br />
durch <strong>Reichwein</strong>: �(<strong>Reichwein</strong>) brauchte für<br />
s<strong>eine</strong> Volkshochschule <strong>eine</strong>n neuen Vorsit-