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Pour - Revue des sciences sociales

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In solchen Witzen steckt ein egalitärer<br />

Typus.<br />

Die Frage, ob ein Witz wie der vom<br />

Gipfelgespräch zwischen Kohl und seinen<br />

französischen und englischen Partnern verbreitet<br />

werden darf, stellt sich unter demokratischen<br />

Bedingungen glücklicherweise nicht.<br />

Immerhin kann man fragen, ob ein Witz<br />

angemessen ist oder nicht. Witze enthalten<br />

grundsätzlich aggressives Potential; sie können<br />

verletzend sein, und es gibt sicher Fälle,<br />

in denen die Grenzen der Beleidigung oder<br />

der üblen Nachrede überschritten werden.<br />

Justitiabel ist dies meistens nicht, da sich ein<br />

Urheber bei dieser literarischen Gattung<br />

kaum einmal feststellen läßt - Plagiatsvorwürfe<br />

unter Kabarettisten sind bisher von<br />

den Gerichten mit Hinweis auf die grundsätzliche<br />

Anonymität der Witze fast immer verworfen<br />

worden. Eben <strong>des</strong>halb aber bleibt<br />

mehr am Erzähler hängen; er trägt gewissermaßen<br />

mehr Verantwortung für den<br />

erzählten Witz, als wenn er lediglich einen<br />

bekannten Autor zitierte.<br />

Kurt Tucholsky fragte: Was darf die<br />

Satire ? Seine Antwort war einfach und eindeutig<br />

: Alles. Die Frage, was der Witz darf,<br />

muß im Prinzip ebenso beantwortet werden.<br />

Es gibt allerdings Geschmacksgrenzen,<br />

deren Ursachen und deren Geltungsbereich<br />

aber wiederum diskutiert werden müssen.<br />

In den USA waren nach dem Verglühen der<br />

Challenger-Rakete sehr rasch eine größere<br />

Anzahl von Witzen im Umlauf, die sich in<br />

sarkastischen Scherzen auf das Unglück der<br />

Astronauten bezogen. "Why do they drink<br />

Coke at NASA ? - They can't geht 7-Up" -<br />

das war noch einer der harmlosesten dieser<br />

Witze. Interessant ist, daß die Peinlichkeit<br />

dieser Scherze in der unmittelbaren räumlichen<br />

und zeitlichen Umgebung <strong>des</strong> Desasters<br />

offenbar weniger empfunden wurde als<br />

aus größerer Distanz. Ein amerikanischer<br />

Anthropologe, Elliott Oring, vertritt die<br />

These, daß durch solche Witze "situations<br />

of unspeakability" überhaupt erst in ein<br />

"speakable universe of discourse" überführt<br />

werden (5)<br />

- Witze also als eine Art Schocktherapie,<br />

die zum Reden über das Unglück<br />

und damit zu einer besseren Verarbeitung<br />

<strong>des</strong> belastenden Ereignisses führt.<br />

Wichtig ist bei der Frage nach der<br />

Angemessenheit, ob der Lacheffekt auf<br />

Kosten <strong>des</strong> Toleranzgebots erzielt wird.<br />

Daß Tabus durchbrochen und verletzt werden,<br />

gehört in gewissem Sinne zur<br />

Definition <strong>des</strong> Witzes - dies hat Freud unübertroffen<br />

in seiner Studie verdeutlicht* 6 '. Es<br />

ist auch kaum möglich und auch nicht sinnvoll,<br />

eine Art Hierarchie der Tabus aufzurichten<br />

und an irgendeiner Stelle eine<br />

Grenze zu ziehen; der Witz bezieht seine<br />

Stärke ja gerade auch aus der Verletzung<br />

starker Tabus. Dagegen könnte es ein<br />

Beurteilungskriterium sein, ob ein Witz in<br />

dem Gefälle mittreibt, das in der Realität<br />

ohnehin angelegt ist, oder ob er versucht,<br />

die Dinge gegen den Strich zu bürsten. Als<br />

Faustregel läßt sich formulieren, daß das<br />

Auslachen von oben nach unten, daß ein<br />

Witz, der Menschen am Rand noch stärker<br />

marginalisiert, in Frage zu stellen ist. Viele<br />

Karnevalsscherze - auch unter den für ein<br />

Millionenpublikum übertragenen - sind<br />

unter diesem Aspekt höchst fragwürdig.<br />

Der Kohl-Witz dagegen ist in einer solchen<br />

Perspektive unproblematisch: Er zielt deutlich<br />

von unten nach oben, er verletzt keine<br />

tiefsitzenden Tabus, und er schickt den<br />

Hauptdarsteller nicht völlig ins Abseits.<br />

Über das Ausmaß der Aggressivität wird<br />

übrigens mehr noch als im Text im Kontext<br />

entschieden. Ein derartiger Witz kann als<br />

heitere Frotzelei, aber auch als sarkastischer<br />

Hinweis auf ein persönliches Manko erzählt<br />

werden. Kohl-Witze werden bestimmt nicht<br />

nur in den Reihen der Opposition verbreitet;<br />

und nicht jeder Christdemokrat, der<br />

einen Kohl-Witz erzählt, ist ein Brutus, der<br />

den Dolch im Gewände trägt. Auch die oft<br />

gestellte Frage, ob politische Witze Widerstand<br />

bezeugen oder lediglich Ventile sind,<br />

kann nur mit einem: 'Das kommt darauf an'<br />

beantwortet werden. Es kommt sicher<br />

<strong>Revue</strong> <strong>des</strong> Sciences Sociales de la France de l'Est, 1994 92

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