unilex 1–2/2007 - ULV
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Gender trouble – wider die Natur des<br />
Geschlechts<br />
renate Wieser<br />
„Als die erste Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt.“<br />
Dieser Satz der österreichischen Schriftstellerin Marie von<br />
Ebner-Eschenbach (1830–1916) verweist auf eine inzwischen<br />
Jahrhunderte lange Tradition von lesenden, schreibenden und<br />
theoriebildenden Frauen; er verweist auf Frauen, denen es in<br />
den jeweiligen Kontexten ihrer Gesellschaftsform gelang, die<br />
Frage nach Bedingungen und Möglichkeiten ihres Frauseins zu<br />
stellen, die aber auch – teils unter schweren Repressionen, teils<br />
sogar unter Einsatz ihres Lebens – die Unterdrückungsverhältnisse,<br />
in denen sie und ihre Geschlechtsgenossinnen standen,<br />
kritisch reflektierten und argumentativ widerlegten. Jedoch<br />
gab es diese Option einer eigenen kritischen Theoriebildung<br />
für Frauen nur in seltenen Fällen; meist waren es klösterlich<br />
lebende oder adelige Frauen, die aufgrund ihres Standes Zugang<br />
zu Bildung und Wissenschaft hatten; da dem Gros der<br />
Frauen aber bis weit in das 20. Jahrhundert hinein der Zugang<br />
zu den Institutionen der Wissenschaft verunmöglicht wurde,<br />
waren es fast ausschließlich Männer – Philosophen, Staatstheoretiker,<br />
Natur- und Humanwissenschafter, Politiker –,<br />
die sich im Laufe der Geschichte Gedanken über das „rechte“<br />
Zusammenleben von Männern und Frauen, über die spezifischen<br />
Aufgaben von Frauen und Männern und damit auch<br />
über das „Wesen“ der Frau, weniger allerdings über ihr eigenes<br />
männliches „Wesen“, machten. Männer verfassten die ersten<br />
Geschlechtertheorien, die männliche Perspektive prägte seit<br />
der antiken Philosophie die Vorstellungen von „Geschlecht“<br />
und „Geschlechtlichkeit“ und Männer schufen mit diesen<br />
Theorien soziale Wirklichkeiten und Gesellschaftssysteme.<br />
Dabei sind allerdings die Geschlechtertheorien, welche bis<br />
heute in unseren Köpfen wirksam sind, erst ein Erbe der<br />
bürgerlichen Aufklärung 1 . Denn die Vorstellung zweier voneinander<br />
biologisch und darum wesenhaft verschiedener Geschlechter,<br />
die Vorstellung, dass die Passivität und fürsorgliche<br />
Emotionalität der Frau und die Aktivität und Rationalität<br />
des Mannes in ihrer jeweiligen Natur begründet seien, ist erst<br />
im Laufe des 18. Jahrhunderts entstanden 2 . Davor – in der<br />
vorneuzeitlichen, antiken und mittelalterlichen Philosophie<br />
– betrachtete man Männer und Frauen zuallererst als Mitglieder<br />
von institutionalisierten Gemeinschaften, der kleinen<br />
des Hauses („oikos“) oder der größeren des Staates („polis“).<br />
Vor dem Hintergrund der Frage nach einem geglückten,<br />
einem gelingenden Leben hatten Männer und Frauen ihre<br />
je spezifischen Aufgaben in der Gemeinschaft zu erfüllen.<br />
Die Lebensform von Frauen und Männer war an ihre gesellschaftlichen<br />
Position, an ihren Stand gebunden, die gesamte<br />
Gesellschaftsordnung wiederum galt als von Gott und/oder<br />
der Schöpfungsordnung vorgegeben und gerechtfertigt.<br />
Dies alles ändert sich mit der Aufklärung. Menschen werden<br />
von ihren gesellschaftlichen Positionen lösgelöst, als einzelne<br />
Individuen sichtbar und es entsteht die Idee der individuellen<br />
Freiheit. Weder die Schöpfungsordnung noch Gottes<br />
Wille können in der Folge zur Rechtfertigung der Herrschaft<br />
von Menschen über Menschen herangezogen werden. Die<br />
Aufklärung als bürgerliche Befreiungsbewegung wollte alle<br />
Menschen von der ständisch-feudalen Herrschaft freisetzen.<br />
Alle Menschen sind gleich an Würde geboren, alle Menschen<br />
haben darum das Anrecht auf die vollen Menschen- und<br />
Bürgerrechte; fundamentale Prämisse liberalen Denkens ist,<br />
dass auf der Basis natürlicher Differenzen keine Herrschaft<br />
begründet werden kann. Dies würde dann wohl auch für die<br />
Frauen gelten, dachten jedenfalls einige Frauen 3 damals – tat<br />
es aber nicht. Der Kampfruf der französischen Revolution<br />
ist hier wörtlich und ernst zu nehmen; denn es ging wirklich<br />
um „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ und eben nicht<br />
um die Schwestern. Wenn nun aber alle Menschen qua Geburt<br />
gleiches Recht und gleiche Würde haben, wie begründet<br />
1 Vgl. zum Folgenden: Sabine Doyé/ Marion Heinz/ Friederike Kuster, Einleitung, in: dies. (Hg.), Philosophische Geschlechtertheorien.<br />
Ausgewählte Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 2002, 7–67.<br />
2 „Von ihren gesellschaftlichen Positionen losgelöste, maßgeblich durch ihren Geschlechtscharakter definierte Subjekte werden erst<br />
im Zuge der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft konzeptualisiert.“, in: Doyé/ Heinz/ Kuster, Einleitung, in: dies. (Hg.), Philosophische<br />
Geschlechtertheorien, 7.<br />
3 So z.B. die französische politische Theoretikerin, Dichterin, Dramatikerin und Aktivistin der Revolution Olympe de Gouges<br />
(1748–1793), welche für ihre „Déclaration des droits de la Femme et de la Citoyenne“ (1791) geköpft wurde. – vgl. Barbara Holland-Cunz,<br />
Die alte neue Frauenfrage, Frankfurt/M. 2003, 24–25 und Barbara Thiessen, Feminismus: Differenzen und Kontroversen,<br />
in: Ruth Becker/ Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden<br />
2004, 35–41, 35.<br />
UNILEX <strong>1–2</strong>/<strong>2007</strong>