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2012 - Forschung & Lehre

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700 WISSENSCHAFT UND WEIN <strong>Forschung</strong> & <strong>Lehre</strong> 9|12<br />

Auf ein Glas Wein mit Kant<br />

Oder: „Der Mensch ist, was er trinkt“<br />

| ANDREAS S PEER | Wein ist kulturgeschichtlich ein<br />

besonderes Getränk. Schon Sokrates diskutierte mit seinen Zeitgenossen nicht<br />

nur auf Straßen und Plätzen, sondern gerne auch bei Symposien, begleitet vom<br />

Wein. Auch Immanuel Kant, selbst passionierter Weintrinker, hat über die Rolle<br />

des Weins nachgedacht.<br />

Der Mensch ist, was er isst“ –<br />

für die meisten wird die ursprüngliche<br />

Schreibweise wie<br />

auch die Herkunft dieses gerne zitierten<br />

Satzes unklar sein. Gerade die beim<br />

Hören unentscheidbare Ambiguität<br />

macht seinen Reiz aus. Das mag durchaus<br />

der Intention des Urhebers dieses<br />

Satzes, Ludwig Feuerbach, entsprochen<br />

haben. Denn Feuerbach bringt darin<br />

seine fundamentale Kritik an einer Anthropologie<br />

zum Ausdruck, die in einer<br />

dualistischen Trennung und idealistischen<br />

Überhöhung der Seele gegenüber<br />

dem Leib und des Geistes gegenüber<br />

dem Körper, der Vernunft gegenüber<br />

der Natur und des Bewußtseins gegenüber<br />

dem bloßen Sein ihre tragenden<br />

Prämissen besitzt. Daher wendet er sich<br />

in seiner 1846 erschienenen Streitschrift<br />

„Wider den Dualismus von Leib<br />

und Seele, Fleisch und Geist“ gegen die<br />

Auffassung, daß sich die menschliche<br />

Wirklichkeit primär oder gar ausschließlich<br />

im Geist abspielt. „Der<br />

Leib“, so Feuerbach, „ist die Existenz<br />

des Menschen; den Leib nehmen, heißt<br />

die Existenz nehmen; wer nicht mehr<br />

sinnlich ist, ist nicht mehr.“<br />

Das ist philosophisch keinesfalls eine<br />

Neuerung, wenn man an die „longue<br />

durée“ der aristotelischen De anima-<br />

Tradition denkt, gemäß der auch die<br />

geistige Seele unauflöslich mit dem Körper<br />

verbunden ist, so daß ihre Trennung<br />

als unnatürlich gelten muss. Das Denken<br />

ist ebenso an die Sinne gebunden<br />

wie die Seele an den Körper. Will man<br />

verstehen, was der Mensch ist, so muss<br />

man ihn zur Gänze und als Ganzes begreifen,<br />

d.h. man muss auch verstehen,<br />

was der Mensch isst – und trinkt.<br />

Um das Trinken geht es in diesem<br />

Beitrag, aber nicht um das Trinken als<br />

ein elementares Lebensbedürfnis, können<br />

wir doch sehr wohl über eine recht<br />

lange Zeit ohne feste Nahrung auskommen,<br />

nicht aber ohne zu trinken. Trinken<br />

ist für den Menschen also nicht<br />

bloß Befriedigung eines biologischen<br />

Bedürfnisses, sondern Teil seiner „zweiten<br />

Natur“, die er gestalten muss. Das<br />

gilt nicht nur für die ganz konkrete Auswahl<br />

der Getränke unter dem Aspekt,<br />

ob sie uns zuträglich sind oder schaden.<br />

Trinken ist weit mehr noch Sozial- und<br />

Ausdruckshandlung.<br />

Das gilt insbesondere für das Getränk,<br />

um das es in diesem Beitrag geht:<br />

den Wein. Der Wein gilt kulturgeschichtlich<br />

von Anfang an als ein besonderes<br />

Getränk. Auch Sokrates führt<br />

seine philosophischen Gespräche nicht<br />

nur auf dem Marktplatz, sondern min-<br />

AUTOR<br />

Andreas Speer ist Professor für Philosophie am Philosophischen Seminar<br />

der Universität zu Köln und Direktor des Thomas-Instituts sowie Sprecher der<br />

a.r.t.e.s. <strong>Forschung</strong>sschule.<br />

Foto: picture-alliance / akg-images<br />

destens ebenso gerne bei Symposien in<br />

den Häusern von Freunden. Hierbei begleitet<br />

der Wein die Gespräche, mitunter<br />

bis an die Grenze der Trunkenheit,<br />

an die man sich durchaus absichtsvoll<br />

herantrinkt – womöglich um, wie es<br />

David Hume ausdrückt, die Torheiten<br />

des einen Tages zu vergessen, um denen<br />

des anderen Tages Platz zu machen.<br />

Kant, die Einbildungskraft und<br />

der Wein<br />

Dieses Hume-Zitat findet sich bei Immanuel<br />

Kant, der nicht nur selbst gerne<br />

Wein getrunken, sondern im ersten Teil<br />

seiner „Anthropologie in pragmatischer

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