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2012 - Forschung & Lehre

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706 WISSENSCHAFT UND WEIN <strong>Forschung</strong> & <strong>Lehre</strong> 9|12<br />

Kann man trinkend<br />

gute Bücher schreiben?<br />

Der Wein und die Literatur<br />

| HERMANN K URZKE | Viele Schriftsteller konsumieren<br />

Wein und alkoholische Getränke. Da liegt es nahe, über den Wein literarisch<br />

zu reflektieren. Ein kursorischer Gang durch die Weltliteratur.<br />

Noah und die Ausartung<br />

Der mythologische Erfinder des Weinbaus<br />

ist Noah, der Erzgescheite, dem<br />

nicht nur die Arche, sondern auch die<br />

Veredelung des wilden Weines zugeschrieben<br />

wird. Das hatte fatale Folgen,<br />

wie man Genesis 9, 20-27 nachlesen<br />

kann. Noah hatte drei Söhne, Sem,<br />

Ham und Japhet. Sem wird der Stammvater<br />

Asiens, Ham der Stammvater Afrikas,<br />

Japhet der Stammvater Europas<br />

werden. Noah pflanzte einen Weinberg.<br />

Und da er von dem Wein trank, ward er<br />

trunken und lag im Zelt mit aufgedeckter<br />

Scham. Als nun Ham seines Vaters<br />

Blöße sah, sagte er's seinen beiden Brüdern<br />

draußen. Da nahmen Sem und Japhet<br />

ein Kleid und legten es auf ihrer<br />

beider Schultern und gingen rückwärts<br />

hinzu und deckten ihres Vaters Blöße<br />

zu; und ihr Angesicht war abgewandt,<br />

damit sie ihres Vaters Blöße nicht sähen.<br />

Als nun Noah erwachte von seinem<br />

Rausch und erfuhr, was ihm Ham<br />

angetan hatte, verfluchte er ihn und<br />

pries Sem und Japhet. Seitdem gelten<br />

die Hamiten als schamlos, die Semiten<br />

und die Japhetiten aber kennen die<br />

Scham. Der Wein hat seitdem literarisch<br />

etwas zu tun mit dem Fallen der<br />

Schranken einer Schamkultur, die gegen<br />

den Rausch und die Ausartung errichtet<br />

wird. Die Zivilisation ist ein fragiles<br />

Gebilde, der Wein steht auf ihrer<br />

AUTOR<br />

Hermann Kurzke, Dr. Dr.h.c., ist<br />

Professor für Neuere Deutsche<br />

Literaturgeschichte an der Universität<br />

Mainz (im Ruhestand).<br />

Grenze, er kann sie zum Einsturz bringen.<br />

Antike und Christentum<br />

Um eine grobe Ordnung in die Überfülle<br />

der Belege zu bringen, unterscheiden<br />

wir, stark vereinfachend, zwischen der<br />

antiken Tradition und der christlichen.<br />

Die antike Tradition ordnet den Wein<br />

einem körperfrohen und diesseitigen<br />

Leben zu. Die christliche Tradition<br />

nennt dieses lüsterne Genießerleben<br />

der Antike „heidnisch“ und betreibt, ohne<br />

dass das je flächendeckend gelingt,<br />

»Die christliche Tradition betreibt,<br />

ohne dass das je flächendeckend<br />

gelingt, eine Spiritualisierung des<br />

Weins.«<br />

eine Spiritualisierung: Der Wein muss<br />

etwas bedeuten, er muss sich in einen<br />

mundus symbolicus fügen, der von Jesu<br />

Abendmahl ausgeht und später zur Eucharistielehre<br />

ausgefaltet wird. Der<br />

Wein ist das Blut Christi. Mit dem Wein<br />

ist der Gedanke des Opfers verknüpft.<br />

Verschütteter Wein ist vergossenes Blut.<br />

Der so gedeutete Wein steht am Ende<br />

einer Sublimierungsgeschichte. Zuerst,<br />

in der Urzeit, gab es, um ungnädige<br />

Götter zu versöhnen, das Menschenopfer.<br />

In geschichtlicher Zeit wurde es humanisiert<br />

und ritualisiert zum Tieropfer<br />

– dem Opferlamm, das auf dem Altar,<br />

der ursprünglich ein Schlachttisch war,<br />

dargebracht wird. Daraus wird im<br />

Christentum das Sakrament von Brot<br />

und Wein, die Eucharistie. Das ursprünglich<br />

reale Opfer wird zum Sym-<br />

bol sublimiert. Der Vorgang setzt sich in<br />

säkularisierten Formen außerhalb der<br />

Kirchen fort, in der Literatur zum Beispiel.<br />

Der Wein begegnet dort als eines<br />

der großen Basissymbole unserer Kultur,<br />

als leistungsfähiges Zeichen sowohl<br />

in vertikaler als auch in horizontaler<br />

Hinsicht, vertikal als Symbol der Versöhnung<br />

mit Gott, horizontal als Symbol<br />

der Versöhnung unter den Menschen.<br />

Joseph Roth gewährt in der Legende<br />

vom heiligen Trinker einem stets<br />

alkoholisierten Clochard eine Himmelfahrt<br />

und steht insofern für die Vertikale.<br />

In einer Gesellschaft, aus der man<br />

nur fliehen kann – die Geschichte ist<br />

kurz vor seinem Tod 1939 im Pariser<br />

Exil geschrieben – führt das Trinken ins<br />

Glück, ins träumeri-<br />

sche Glück des Todes.<br />

Der letzte Satz der Erzählung<br />

ist: „Gebe<br />

Gott uns allen, uns<br />

Trinkern, einen so<br />

leichten und so schönen<br />

Tod!“<br />

Wein und Lüge<br />

Joseph Roths Trinker ist gewissermaßen<br />

ein geborener Trinker, es ist seine Bestimmung<br />

zu trinken, die er verfehlt<br />

hätte, wenn er in die zivilisierte Gesellschaft<br />

zurückgekehrt wäre. Sein Trinken<br />

ist existentiell wahrhaftig. Schaut<br />

man sich die rund 30 Weinlieder im<br />

Kommersbuch an (150. Auflage 1929),<br />

dem großen, anderthalb Jahrhunderte<br />

immer wieder aufgelegten Liederbuch<br />

der Studentenverbindungen, dann findet<br />

man neben den üblichen Preisliedern<br />

auf Wein, Weib und Gesang, die<br />

nach unserer Einteilung zur antiken<br />

Tradition gehören, eine andere Grundtendenz:<br />

Lieder der Weltflucht und des<br />

Ausweichens vor dem Leben. „Was<br />

kümmert mich die ganze Welt, wenn's

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