2012 - Forschung & Lehre
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9|12 <strong>Forschung</strong> & <strong>Lehre</strong> NACHRICHTEN 697<br />
Europäische Universitäten kritisieren Evaluation<br />
als Erbsenzählerei<br />
Mehrere große europäische<br />
Universitäten<br />
haben Politik und Wissenschaft<br />
dazu aufgefordert, der<br />
immer weiter ausufernden<br />
Evaluation von <strong>Forschung</strong> ein<br />
Ende zu setzen. Das Begutachten,<br />
Auswerten und Steuern<br />
von Wissenschaft habe<br />
sich zu „einer ungesunden<br />
Obsession“ ausgewachsen, die<br />
zu einer „Kultur von Erbsenzählerei“<br />
führe. Dies berichtet<br />
der Berliner Tagesspiegel unter<br />
Berufung auf eine Erklärung<br />
der „League of European<br />
Research Universities“. In diesem<br />
Verbund sind 21 Universitätenzusammengeschlossen,<br />
darunter die Universitäten<br />
von Oxford, Cambridge,<br />
Leiden, die Universitäten Zürich<br />
und Mailand sowie aus<br />
Deutschland die LMU München,<br />
die Universität Heidel-<br />
Kempen: „Wissenschaftsbetrug ist kriminell“<br />
Der Deutsche Hochschulverband<br />
(DHV) hat den<br />
Gesetzgeber dazu aufgefordert,<br />
einen Straftatbestand<br />
Wissenschaftsbetrug zu schaffen.<br />
Der DHV wendet sich damit<br />
gegen die Branche der sogenanntenPromotionsberater.<br />
Sie steht in dringendem<br />
Verdacht, kommerziell für<br />
vermeintliche Promovenden<br />
Dissertationen, aber auch für<br />
Studierende Bachelor- und<br />
Masterabschlussarbeiten zu<br />
verfassen. „Ghostwriter bringen<br />
die akademischen Grade<br />
und die Hochschulen, die sie<br />
verleihen, in Verruf“, erklärte<br />
der Präsident des DHV, Professor<br />
Dr. Bernhard Kempen.<br />
„Das geht zu Lasten der großen<br />
Mehrzahl der Akademiker,<br />
die ihre akademischen<br />
Grade rechtmäßig durch Leistung<br />
erworben haben.“<br />
Um der Entwertung akademischer<br />
Grade einen Riegel<br />
vorzuschieben, müssten<br />
die Abschreckungsinstrumente<br />
geschärft werden. Das<br />
Aufspüren und die Ahndung<br />
berg und die Universität Freiburg.<br />
Die Evaluationen hätten<br />
„unerwünschte Konsequenzen“,<br />
heißt es in der Erklärung.<br />
Universitäten müssten<br />
„exzessive Mengen an Daten“<br />
produzieren, was an die Grenze<br />
personeller und finanzieller<br />
Ressourcen gehe. Oft würden<br />
sich Begutachtungen doppeln,<br />
was zu zusätzlichen Belastungen<br />
führe. Hochwertige <strong>Forschung</strong><br />
werde so nicht unterstützt,<br />
sondern behindert.<br />
Die Universitäten erkennen<br />
zwar an, dass Politik und<br />
Gesellschaft ein berechtigtes<br />
Interesse daran hätten zu erfahren,<br />
was Hochschulen leisteten.<br />
Auch Universitäten<br />
selbst würden dazu tendieren,<br />
die eigenen Leistungen immer<br />
umfassender zu analysieren,<br />
um institutionelle und in-<br />
von Plagiaten müsse auch in<br />
Zukunft die Scientific Community<br />
leisten. Gegenüber<br />
gewerblichen Promotionsberatern,<br />
die seit Jahrzehnten<br />
ungehindert per Annonce gegen<br />
hohe Entgelte Rundum-<br />
Sorglos-Pakete um die Dissertation<br />
anböten, sei die<br />
Wissenschaft, so Kempen<br />
weiter, aber weitgehend<br />
machtlos. Schätzungen zufolge<br />
werden bis zu zwei Prozent<br />
aller Dissertationen unter<br />
tatkräftiger Mitwirkung<br />
von Promotionsberatern verfasst.<br />
Laut einer dpa-Meldung<br />
gehen Experten davon<br />
aus, dass sogar etwa jede dritte<br />
Doktorarbeit in den Fachbereichen<br />
Jura und Wirtschaftswissenschaften<br />
von<br />
Ghostwritern stammen soll.<br />
„Die bisherigen Sicherheitsvorkehrungen<br />
innerhalb<br />
der Universitäten, wie stärkere<br />
Einbindung, Kontrolle und<br />
Betreuung der Doktoranden<br />
oder das Verlangen einer eidesstattlichen<br />
Erklärung über<br />
die Nichtzusammenarbeit<br />
dividuelle Stärken und<br />
Schwächen herauszufinden<br />
oder neue <strong>Forschung</strong>sfelder<br />
zu generieren. Es sei daraus<br />
ein richtiges Geschäftsfeld<br />
entstanden, weil wegen der<br />
Menge der Evaluationen viele<br />
Aufgaben an externe Agenturen<br />
abgegeben würden.<br />
Leider sei auch nicht allen<br />
klar, so die Erklärung, dass<br />
die Methoden der Begutachtungen<br />
ihre Grenzen hätten.<br />
„Peer Review“ sei zwar weit<br />
verbreitet, aber auch „teuer,<br />
zeitintensiv und manchmal<br />
subjektiv“. Viele bibliometrische<br />
Datenbanken würden<br />
verwendet, obwohl deren<br />
Qualität zu wünschen übrig<br />
lasse. Die 21 Universitäten<br />
forderten deshalb zentrale<br />
Datenbanken, über die genauere<br />
Auswertungen möglich<br />
seien.<br />
mit einem Promotionsberater<br />
reichen nicht aus. Sowohl<br />
der Ghostwriter selbst als<br />
auch der Blender, der sich<br />
mit fremden Federn<br />
schmückt, müssen ins Visier<br />
genommen werden. „Wissenschaftsbetrug<br />
ist kein Kavaliersdelikt,<br />
sondern kriminell“,<br />
betonte Kempen. Deshalb<br />
unterbreite der DHV<br />
folgenden Gesetzesvorschlag<br />
zur Aufnahme in das Strafgesetzbuch:<br />
„(1) Wer eine Qualifikationsarbeit,<br />
die der Erlangung<br />
eines akademischen Grades<br />
oder eines akademischen Titels<br />
dient, für einen Dritten<br />
verfasst, wird mit einer Freiheitsstrafe<br />
bis zu zwei Jahren<br />
oder mit Geldstrafe bestraft.<br />
(2) Wer eine Qualifikationsarbeit<br />
im Sinne von Abs.<br />
1, die von einem Dritten ganz<br />
oder teilweise verfasst wurde,<br />
als eigene ausgibt, ohne deren<br />
Urheber zu sein, wird mit<br />
einer Freiheitsstrafe bis zu<br />
zwei Jahren oder mit Geldstrafe<br />
bestraft.“<br />
KOMMENTAR<br />
Evaluitis<br />
Der Club europäischer <strong>Forschung</strong>suniversitätenprofiliert<br />
sich durch Klartext:<br />
Begutachtung, Auswertung<br />
und Steuerung von Wissenschaft<br />
arte zur Besessenheit<br />
aus. Das trifft ganz<br />
besonders auf Deutschland<br />
zu. Die Drangsalierungen<br />
durch überbordende Dokumentations-<br />
und Berichtspflichten,<br />
ein in weiten<br />
Teilen von niemandem<br />
mehr ernst genommenes<br />
Akkreditierungswesen, die<br />
weit verbreitete Prämierung<br />
von Antragsexzellenz<br />
und die Bewertung von<br />
<strong>Forschung</strong>sleistungen nach<br />
Maßgabe heteronom gesetzter<br />
Indizes haben für<br />
die Universitäten mehr erstickende<br />
als sie fördernde<br />
Ausmaße erreicht. In seinem<br />
Gefolge kämpft eine<br />
Evaluierungsindustrie von<br />
Daten-Sammlern und<br />
-Jägern um Marktanteile,<br />
ins Werk gesetzt von einer<br />
um Entscheidungskriterien<br />
verlegenen Hochschulpolitik,<br />
die das große Schiff<br />
Wissenschaft steuern will<br />
und dafür Lotsen braucht.<br />
Am Ende dieser Entwicklung<br />
steht ein mit sich<br />
selbst beschäftigtes, narzisstischesHochschulsystem.<br />
Dabei gilt doch: Ein<br />
Ei ist ein Ei – und seine<br />
Qualität hängt mehr vom<br />
Freilauf als von der Zahl<br />
der es begackernden Hühner<br />
ab.<br />
Gleichwohl ist Vorsicht<br />
geboten: Evaluatio necesse<br />
est. Erst die Dosis macht<br />
sie zum Gift. Aber wer soll<br />
wie über das rechte Maß<br />
bestimmen? Der Schlüssel<br />
dazu liegt eher bei autonomen<br />
Hochschulen als bei<br />
staatlich lizenzierter und<br />
geförderter Erbsenzählerei.<br />
Michael Hartmer