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50 Jahre Verfassungsschutz und politischer Extremismus in Nordrhein-Westfalen 46<br />
In der Literatur werden überwiegend und zutreffend drei tragende Erfahrungen<br />
herausgearbeitet:<br />
• Das Scheitern der Weimarer Republik,<br />
• die traumatischen Wirkungen des nationalsozialistisch-faschistischen Systems<br />
der Hitlerdiktatur und<br />
• die unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges deutlich werdende und<br />
sich mindestens bis in die Mitte der 60er Jahre haltende ernsthafte gegenseitige<br />
Bedrohung von Staaten mit demokratischer Staatsordnung und kapitalistischem<br />
Wirtschaftssystem und von Staaten mit sozialistisch-diktatorischer<br />
Staatsordnung und staatskapitalistischem Wirtschaftssystem.<br />
Die »Lehren von Weimar«<br />
Der Weimarer Republik wird angelastet, sie sei gegen zerstörerische Kräfte wehrlos<br />
gewesen, weil sie keine Vorkehrungen zur Systemstabilität gewollt und folglich<br />
auch nicht geschaffen habe. Verfassungsrechtlich war diese radikale Liberalität<br />
angelegt in Artikel 76 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) 1) . Danach hatte der<br />
Reichstag mit Zwei-Drittel-Mehrheit die Möglichkeit, alle Teile der WRV zu ändern.<br />
Das war sozusagen der Hebel zur systemimmanenten Systemveränderung. Flankierend<br />
zur Rechtslage zeigte sich ein ausgeprägter werterelativer Zeitgeist. Hans<br />
Kelsen, ein österreichisch-amerikanischer Jurist, der Anfang der 30er Jahre in<br />
Köln lehrte, meinte: »Die Demokratie ..., bleibt sie sich treu, muss sie auch eine<br />
auf Vernichtung der Demokratie gerichtete Bewegung dulden. ... Ob die Demokratie<br />
sich selbst verteidigen soll, auch gegen das Volk, das sie nicht mehr will ...,<br />
diese Frage stellen, heißt schon, sie verneinen«. 2)<br />
Spätdiagnosen sprechen von<br />
der »Neutralität der WRV bis zum Selbstmord«. 3) Subtile Untersuchungen 4) belegen<br />
zwar, dass Weimar so wehrlos nicht war: Staatsorganisatorische und inhaltliche<br />
Verfassungs- und einfachgesetzliche Normen sowie eine nachhaltige, breite<br />
Akzeptanz dieses Staates - wäre sie denn vorhanden gewesen - hätten schon einen<br />
Schutz der Weimarer Republik ermöglicht. In diesem Sinne gab es sogar vereinzelt<br />
Stimmen, die an Eindeutigkeit nicht zu übertreffen waren: »Die Verfassung,<br />
welche die demokratischen Forderungen der Freiheit der Presse, der Vereine und<br />
Versammlungen verwirklicht, gewährt zugleich auch die Befugnis, diese Freiheiten<br />
zu beschränken, wenn sie zur Beseitigung der Verfassung selbst ... missbraucht<br />
werden«, erklärt die Reichsregierung unter Reichskanzler Wirth (Zentrum) schon<br />
im Jahre 1921 5) . Faktum bleibt aber, dass diese Mittel nicht oder nicht ausreichend<br />
aktiviert wurden, denn schließlich hat sich Weimar wehrlos nach den Wahlentscheidungen<br />
einer beachtlichen Minderheit des Volkes in den Jahren 1932 und<br />
1933 selbst preisgegeben. 6) Fazit: Die Weimarer Republik war begrenzt streit- und<br />
wehrfähig, sie hat sich aber nicht wehrhaft, nicht streitbar gezeigt und ist an ihrem<br />
Werterelativismus gescheitert.<br />
Als das folgende Unrechtsregime des Dritten Reiches dann die schlimmsten Ausformungen<br />
eines totalitären Staates lehrbuchmäßig vorführte, die überhaupt erst<br />
durch die eben beschriebene Weimarer Situation möglich wurden, war darin<br />
zugleich geradezu zwanghaft die Konsequenz angelegt, für die Zukunft Vermeidungsstrategien<br />
zu entwickeln. So haben sich Verfechter und Zeitzeugen der »totalen«<br />
Weimarer Demokratie nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches dafür<br />
ausgesprochen, in die neue Verfassung »eine Hemmung gegen das Recht auf<br />
Selbstmord« einzufügen. 7)