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Tagungsband Landespsychotherapeutentag 2005 (PDF, 4749 kb)

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dazu nichts ein, würde ich ihm anbieten, dass er<br />

vorübergehend andere bitten könnte, für ihn zu<br />

wählen.<br />

Während des Erstgesprächs fällt mir aus psychoanalytischer<br />

Sicht auf, dass Herr Böttcher eine<br />

tödliche Krankheit hat. Er idealisiert die medizinische<br />

Therapie, die ihn gesund machen wird.<br />

Ein kleiner Zweifel taucht jedoch auf, als ihm<br />

einfällt, dass er schon ein Testament gemacht<br />

hat. Hier würde ich als Behandlerin seine Abwehr<br />

respektieren, ihm stützend sagen: Ich an<br />

Ihrer Stelle hätte ein gutes Gefühl, mit einem<br />

Testament vorgesorgt zu haben.<br />

Im Gespräch zwei Monate später möchte er<br />

Tipps, wie er sein Weinen abstellen kann. Mir<br />

fällt auf, dass er dem Weinen nicht auf den<br />

Grund gehen möchte. Dafür würde ich mich<br />

dann interessieren. Aber da er mir kein Gefühl<br />

anbietet, muss ich mich fragen, was er mit seiner<br />

Affektisolierung als Abwehr schützen muss.<br />

Deswegen biete ich ihm wieder mit dem behandlungstechnischen<br />

Mittel der Hilfs-Ich-Übernahme<br />

an: Ich kenne von Menschen das Weinen als<br />

Ausdruck der Traurigkeit und ich frage mich,<br />

warum Sie glauben, nicht traurig zu sein, aber<br />

dennoch weinen zu müssen. Ihre Beschwerden,<br />

die Sie bekommen haben und auch die Erzählung<br />

über die Möglichkeit, vielleicht doch nicht<br />

gesund zu werden, wie andere Patienten , würden<br />

mich an Ihrer Stelle traurig machen.<br />

Ich denke für mich, er darf nicht traurig sein,<br />

muss deswegen depressiv werden.<br />

In der Frage, warum er krank geworden ist,<br />

schimmert Neid auf diejenigen, die gesund sind<br />

und das Gefühl, vom Schicksal ungerecht behandelt<br />

worden zu sein. Hierzu würde ich sagen:<br />

Sie haben das Gefühl, dass es ungerecht ist, dass<br />

gerade Sie krank geworden sind. Vielleicht fragen<br />

Sie sich sogar, was Sie getan haben, dass Sie<br />

so bestraft werden. Ich würde ihn jedoch auch<br />

mit der Tatsache konfrontieren, dass alle Menschen<br />

krank werden und auch sterben. Dies würde<br />

ich deswegen betonen, weil Menschen, die<br />

sich krank fühlen oft glauben, sie seien die einzigen<br />

auf der Welt denen es so schlecht geht.<br />

Den Neid auf die anderen würde ich noch nicht<br />

ansprechen, da es für ihn zu bedrohlich würde,<br />

ein derart verpöntes, verbotenes Gefühl zu haben.<br />

Er fragt sich dann noch, wie es weiter geht, wie<br />

es mit seiner Familie weiter geht. Seine Idealisierung<br />

der medizinischen Therapie wird aufgrund<br />

der realen Tatsachen brüchig, so dass Angst in<br />

ihm aufsteigt. An dieser Stelle würde ich ihn nach<br />

seinen Vorstellungen fragen, wie er denkt, dass es<br />

weiter geht, um genaueres über seine spezifische<br />

Angst zu erfahren. Aber auch seine Vorstellungen<br />

darüber, wie er seine Zeit gut nutzen kann, würde<br />

ich mit ihm besprechen. Ich würde ihn fragen: Ist<br />

es nicht für jeden von uns so, dass wir jeden Tag<br />

so leben sollten, als wäre es der letzte?<br />

Seine depressive Reaktion lässt auf einen früheren<br />

Objektverlust schließen, also den Verlust eines<br />

Menschen, der ihm nahe stand. Diesen Verlust<br />

konnte er nicht betrauern, vermutlich aus den<br />

gleichen Gründen, weshalb er jetzt auch nicht<br />

traurig sein kann – aus Affektisolierung.<br />

Ich erfahre von Herrn Böttcher aus seiner Lebensgeschichte,<br />

dass es eine frühere gescheiterte Ehe<br />

gibt, aus der er einen Sohn hat. Er sagt auch hier<br />

nichts über die schmerzlichen Hintergründe der<br />

Trennung, sondern rationalisiert mit, er war viel<br />

zu jung. In einer längeren Behandlung würde ich<br />

ihn fragen, ob er wirklich denkt, dass sein junges<br />

Alter dazu geführt hat, dass die Ehe gescheitert<br />

ist, oder ob es noch andere Gründe gab. Ich würde<br />

ihm sagen, dass es mir so vorkommt, als würde er<br />

mit der rationalen Erklärung die schmerzlichen<br />

Gefühle, die die Trennung sicher mit sich gebracht<br />

hat, weit von sich fern halten kann, so dass<br />

er sie nicht mehr spüren muss. Ich würde mich<br />

auch ihm gegenüber wundern, weshalb er seinen<br />

leiblichen Sohn im Vergleich zu den Söhnen seiner<br />

Lebenspartnerin schlechter behandelt. Ich<br />

würde ihm verdeutlichen, dass ich da einen Ärger,<br />

eine Aggression von ihm gegen seinen Sohn verspüre,<br />

verbunden mit der Frage, ob er eine Idee<br />

hat, woher diese Gefühle bei ihm kommen. Denn<br />

normalerweise lieben Väter ihre Kinder.<br />

Wir wissen jetzt natürlich nicht, welche Erinnerung<br />

und welche Affekte bei Herrn Böttcher auftauchen.<br />

Danach richtet sich, wie klärend, konfrontativ<br />

oder deutend ich mit ihm arbeiten kann.<br />

Von daher trage ich Ihnen weiter vor, wie ich mit<br />

ihm arbeiten würde.<br />

Bezogen auf seinen Sohn stellt sich mir die Frage,<br />

ob er in Verschiebung die narzisstische Wut, die<br />

das Scheitern der Ehe für Herrn Böttcher mit sich<br />

gebracht hat, abbekommt. Vielleicht hat Herr<br />

Böttcher sich nie getraut, sich mit seiner Ehefrau<br />

über seine Enttäuschung an ihr auseinander zu<br />

setzen.<br />

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