21.11.2013 Aufrufe

Abschied von Wachstum und Fortschritt - Technikgeschichte der ...

Abschied von Wachstum und Fortschritt - Technikgeschichte der ...

Abschied von Wachstum und Fortschritt - Technikgeschichte der ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Patrick Kupper: Umweltbewegung <strong>und</strong> Atomenergie ETH Zürich / <strong>Technikgeschichte</strong> / Preprint 2 / Seite 10<br />

Hansjörg Siegenthalers Theorie des sozialen Wandels in mo<strong>der</strong>nen <strong>Wachstum</strong>sgesellschaften<br />

<strong>und</strong> die Diskursanalyse nach Michel Foucault. 30<br />

Hansjörg Siegenthalers Theorie baut auf dem ökonomischen Modell des individuellen, rational<br />

handelnden Akteurs auf, erweitert dieses allerdings um sozial-wissenschaftliche Erkenntnisse.<br />

Den individuellen Akteur sieht Siegenthaler eingeb<strong>und</strong>en in „kognitive Regelsysteme“,<br />

definiert als Gesamtheit aller Regeln <strong>der</strong> Selektion, Klassifikation <strong>und</strong> Interpretation<br />

<strong>von</strong> Informationen, sowie „Institutionen“, definiert als Gesamtheit externer <strong>und</strong> internalisierter<br />

Gebots- <strong>und</strong> Verbotsnormen. 31 Alle kognitiven Regelsysteme <strong>und</strong> Institutionen bilden<br />

zusammen die „Struktur“ <strong>der</strong> Gesellschaft. Siegenthaler verknüpft nun den Prozess wirtschaftlichen<br />

<strong>Wachstum</strong>s mit dem gesellschaftlichen Strukturwandel. Beide vollziehen sich<br />

ungleichmässig: Die Konjunkturzyklen <strong>der</strong> wirtschaftlichen Entwicklung werden interpretiert<br />

in wechselseitiger Abhängigkeit mit dem Wechsel <strong>von</strong> Perioden stabiler Struktur <strong>und</strong><br />

Krisenphasen, in denen die Struktur in Bewegung gerät. Strukturperioden sind gekennzeichnet<br />

einerseits durch eine stabile Struktur, an<strong>der</strong>erseits aber auch durch eine dynamische<br />

wirtschaftliche Entwicklung. Diese auf den ersten Blick paradox anmutende Symbiose <strong>von</strong><br />

Stabilität <strong>und</strong> Dynamik erklärt sich dadurch, dass Menschen desto eher bereit sind zu handeln,<br />

je besser sie die Konsequenzen ihrer Handlungen abschätzen können. An<strong>der</strong>s gesagt:<br />

Wirtschaftliche Aktivitäten gedeihen am besten im Umfeld stabiler Institutionen <strong>und</strong> Denkregeln.<br />

An<strong>der</strong>erseits führt diese Symbiose <strong>von</strong> Stabilität <strong>und</strong> Dynamik dazu, dass die unverän<strong>der</strong>te<br />

Struktur immer häufiger mit <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten gesellschaftlichen Realität kollidiert.<br />

Diese Entwicklung kann zum Vertrauensverlust in die bisherige Struktur führen. Sobald<br />

dieses Phänomen massenhaft auftritt, schlittert die Gesellschaft in eine Orientierungskrise, in<br />

<strong>der</strong> nun ihre eigene Struktur zum vordringlichen Diskussionsthema wird. In kommunikativ<br />

vermittelten sozialen Lernprozessen versuchen die Akteure, ein neues, passen<strong>der</strong>es Bild <strong>der</strong><br />

Welt zu gewinnen. Den Erwerb, die Modifikation <strong>und</strong> Einübung neuer kognitiver Regeln<br />

bezeichnet Siegenthaler als „f<strong>und</strong>amentales Lernen“, das er vom „regelgeb<strong>und</strong>enen Lernen“,<br />

dem Routinelernen, das in den Strukturperioden vorherrscht, abgrenzt. Oft wird im Rahmen<br />

f<strong>und</strong>amentaler Lernprozesse auch Än<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> institutionellen Ordnung initiiert. Der in<br />

<strong>der</strong> Krise vollzogene Strukturwandel kann so die Basis einer neuen Strukturperiode bilden. 32<br />

Vor dem Hintergr<strong>und</strong> <strong>von</strong> Siegenthalers Theorie lässt sich die Thematisierung <strong>der</strong> Umweltprobleme<br />

als Versuch verunsicherter Gesellschaften verstehen, ihre als überholt empf<strong>und</strong>enen<br />

Strukturen zu revidieren. Die Umweltprobleme entstanden nicht einfach, son<strong>der</strong>n wurden<br />

im Zuge sozialer Kommunikationsprozesse entdeckt. Diese Interpretation erklärt auch,<br />

wieso die Umweltbeeinträchtigungen nach 1945 ziemlich kontinuierlich stiegen, die Problematisierung<br />

dieses Prozesses um 1970 jedoch sprunghaft neue Dimensionen gewann. 33 Auch<br />

für die Bildung <strong>der</strong> Umweltbewegung bietet Siegenthalers Theorie Erklärungsansätze: Ihr<br />

Hauptanreiz könnte darin bestanden haben, dass sie einen Ort <strong>der</strong> sozialen Kommunikation<br />

<strong>und</strong> die in <strong>der</strong> Krisenphase hochgeschätzte Möglichkeit für f<strong>und</strong>amentales Lernen anbieten<br />

konnte.<br />

30 Siegenthaler 1993; Foucault.<br />

31 Zu den Institutionen gehören „alle internalisierten Zwänge, gesellschaftlich informell abgesicherte Begrenzungen<br />

<strong>der</strong> Handlungsspielräume <strong>und</strong> die <strong>von</strong> Staates wegen erlassenen <strong>und</strong> durchgesetzten Normen des<br />

positiven Rechts.“ Siegenthaler 1993, S. 26.<br />

32 Nach Siegenthalers Theorie vollzieht sich <strong>der</strong> Strukturwandel ungleichmässig. Phänomenologisch ergeben<br />

sich gewisse Ähnlichkeiten mit naturwissenschaftlichen Beschreibungen <strong>von</strong> Prozessen in ökologischen Systemen.<br />

Z.B. sinkt <strong>der</strong> pH-Wert eines Bodens unter Säureeintrag ungleichmässig, da verschiedene Substanzen<br />

die Säuren puffern. Solange die Puffersubstanz vorhanden ist, sinkt <strong>der</strong> pH-Wert nur langsam, sobald sie aufgebraucht<br />

ist, dagegen sehr schnell, bis eine an<strong>der</strong>e Puffersubstanz den Sinkflug wie<strong>der</strong> abbremst. Allerdings<br />

gibt es einen gewichtigen Unterschied zwischen Siegenthalers Theorie sozialen Wandels <strong>und</strong> den naturwissenschaftlichen<br />

Theoremen: Während erstere deterministisch argumentieren, legt Siegenthaler Wert auf eine<br />

possibilistische Sichtweise (Siegenthaler 1993, S. 18).<br />

33 Siehe die Abschn. 3.2 <strong>und</strong> 3.3.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!