Abschied von Wachstum und Fortschritt - Technikgeschichte der ...
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Patrick Kupper: Umweltbewegung <strong>und</strong> Atomenergie ETH Zürich / <strong>Technikgeschichte</strong> / Preprint 2 / Seite 60<br />
o<strong>der</strong> nicht, ist eine soziale <strong>und</strong> politische Frage (…) <strong>und</strong> kann nur <strong>von</strong> <strong>der</strong> betroffenen Bevölkerung<br />
entschieden werden.“ 260 Wie nun dieser Bef<strong>und</strong> zu interpretieren sei, wurde in<br />
<strong>der</strong> Folge Thema ausgiebiger Kontroversen. 261<br />
Mit <strong>der</strong> Sicherheitsfrage verfolgten die AKW-Kritiker auch die internationalen Entwicklungen<br />
bezüglich <strong>der</strong> Standortwahl. So wies das NAK auf die amerikanischen Richtlinien hin,<br />
welche die Bevölkerungsdichte im Umkreis <strong>von</strong> Atomkraftwerken beschränkten; <strong>und</strong> als <strong>der</strong><br />
b<strong>und</strong>esdeutsche Wissenschaftsminister Leussink 1970 die Genehmigung für ein AKW-<br />
Projekt <strong>der</strong> BASF in Ludwigshafen wegen <strong>der</strong> Nähe zur Stadt vorerst für zwei Jahre auf Eis<br />
legte, spitzte man in Basel die Ohren. 262 Nebenbei: Leussink prägte in seiner Begründung<br />
den Begriff „Restrisiko“, dem noch eine lange Karriere im AKW-Diskurs bevorstehen sollte.<br />
263<br />
Die SVA, die Elektrizitätswerke <strong>und</strong> die B<strong>und</strong>esbehörden reagierten auf die öffentlich bek<strong>und</strong>eten<br />
Vorbehalte <strong>und</strong> Befürchtungen mit einer Informationskampagne. Ihre Atomexperten<br />
nahmen an kontradiktorischen Veranstaltungen teil, hielten Referate <strong>und</strong> publizierten<br />
Artikel. Die SVA erstellte Informationsmaterial für verschiedene Zielgruppen <strong>und</strong> führte im<br />
November 1970 in Bern während dreier Tage eine grosse Informationstagung durch, <strong>der</strong> ein<br />
speziell auf die Medienleute ausgerichtetes Seminar folgte. Angeführt <strong>von</strong> B<strong>und</strong>esrat Bonvin<br />
zählten die Experten <strong>von</strong> B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Atomwirtschaft die vielen Sicherheitsmassnahmen auf,<br />
betonten die Ungefährlichkeit <strong>von</strong> Atomkraftwerken <strong>und</strong> wiesen darauf hin, dass zur Deckung<br />
des Energiebedarfs <strong>der</strong> Bau <strong>von</strong> Atomkraftwerken notwendig sei. 264<br />
Das Auftreten 'Schulter an Schulter' <strong>von</strong> Experten <strong>der</strong> Atomlobby <strong>und</strong> des B<strong>und</strong>es hatte mittelfristig<br />
verhängnisvolle Folgen. Der B<strong>und</strong> hatte bereits zu Beginn <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />
seine Stellung als neutraler Dritter verloren. Bald schon machte sich bei vielen das Gefühl<br />
breit, völlig einseitig aufgeklärt worden zu sein; das Informationsmaterial <strong>der</strong> SVA<br />
wurde als Propaganda gebrandmarkt, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Ruf nach unabhängigen Experten wurde<br />
laut. 265<br />
An den Veranstaltungen lernten sich aber auch die AKW-Gegner kennen. So gehörte Werner<br />
Zimmermann zu ihren Stammgästen ebenso wie die beiden Chemiker Konradin Kreuzer,<br />
<strong>der</strong> sich ab 1970 regelmässig in <strong>der</strong> Zeitschrift des Rheinaub<strong>und</strong>es zu den Atomkraftwerken<br />
äusserte, <strong>und</strong> Ralph Graeub, aus dessen Fe<strong>der</strong> das 1972 erschienene Buch „Die sanften Mör<strong>der</strong><br />
- Atomkraftwerke demaskiert“ stammte. 266<br />
Wie die SVA die Situation im Frühling 1971 einschätzte, können wir dem Bericht „L'opinion<br />
publique suisse face à l'énergie nucléaire“ entnehmen, den die SVA zuhanden <strong>der</strong> „4. Internationalen<br />
Konferenz für die friedliche Nutzung <strong>der</strong> Atomenergie“ erstellte. 267<br />
260 Prof. E.C. Tsivoglou. Control of Radioactive Pollution at Kaiseraugst, Switzerland, 4.6.1970. Zitate aus <strong>der</strong><br />
Übersetzung <strong>der</strong> empfehlenden Zusammenfassung, zit. nach LNN, Nr.51, 3.3.1971. Vgl. Konradin Kreuzer,<br />
Die radioaktive Gefährdung durch das Atomkraftwerk Kaiseraugst, in: NuM, 5/1971, S. 226f. Die Gewässerschutz-Problematik<br />
war nicht Thema <strong>der</strong> Expertise Tsivoglous.<br />
261 Vgl. die Artikel <strong>von</strong> Konradin Kreuzer in: NuM, 1/1972, S. 42-46 <strong>und</strong> 2/1972, S. 75-81.<br />
262 NZ, Nr. 432, 20.9.1970; NZZ, Nr. 156, 3.4.1971; Zimmermann, S. 70. Zum Projekt in Ludwigshafen, das die<br />
BASF übrigens 1972 aufgab: Jung, S. 74f; Radkau 1983, S. 376-382.<br />
263 Jung, S. 74f. Leussink verwendete den Begriff „Restrisiko“ als Argument gegen den Bau eines AKW in unmittelbarer<br />
Stadtnähe . Später wurde <strong>der</strong> Begriff <strong>von</strong> den AKW-Befürwortern übernommen, die ihn zur sprachlichen<br />
Risikominimierung verwendeten, indem sie das Risiko <strong>der</strong> Atomkraft zu einem Restrisiko verkleinerten.<br />
264 Annexe 1, S. 254; SPJ, 1970, S. 101. Feuz u.a., S. 33-36. Am 16.12.1970 folgte eine weitere Tagung für die Parlamentarische<br />
Gruppe für Natur- <strong>und</strong> Heimatschutz. ArSBN 3.4.1. Auf die Argumente <strong>der</strong> Befürworter wird in<br />
Abschn. 5.2.1 näher eingegangen.<br />
265 Vgl. Häsler, S. 116-118; Zürcher, S. 52. Vgl. Abschn. 5.2.3.<br />
266 Graeub. Das Buch fand auch in Deutschland Verbreitung: Radkau 1983, S. 450f. Zimmermann, S. 66-79. Zu<br />
Kreuzer siehe Abschn. 5.3.1.<br />
267 Feuz u.a..