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Abschied von Wachstum und Fortschritt - Technikgeschichte der ...

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Patrick Kupper: Umweltbewegung <strong>und</strong> Atomenergie ETH Zürich / <strong>Technikgeschichte</strong> / Preprint 2 / Seite 83<br />

5.2.3. Der 'Kampf um die Wahrheit' <strong>und</strong> die Erosion <strong>der</strong> Expertenmacht<br />

Praktisch mit Beginn <strong>der</strong> Kontroversen um die Atomkraftwerke setzte auch ein Kampf um<br />

die 'Quellen <strong>der</strong> Wahrheit' ein. Es lag in <strong>der</strong> Komplexität <strong>der</strong> Fragen, dass es selbst für eine<br />

gebildete Zuhörerschaft nicht einfach war, zwischen 'richtigen' <strong>und</strong> 'falschen' Argumenten<br />

zu unterscheiden. Alfred A. Häsler schrieb in seinem 1972 erschienen Buch:<br />

„Der Laie steht dieser Auseinan<strong>der</strong>setzung, bei <strong>der</strong> übrigens die befürwortende Seite<br />

über beträchtlich mehr propagandistische Mittel verfügt als die kritisierende, hilflos<br />

gegenüber. Fachleute bestreiten einan<strong>der</strong> die Kompetenz, werfen einan<strong>der</strong> Voreingenommenheit,<br />

Einseitigkeit o<strong>der</strong> gar finanzielle Abhängigkeit vor.“ 370<br />

Befürworter <strong>und</strong> Gegner <strong>der</strong> Atomenergie bezichtigten sich gegenseitig, die Öffentlichkeit<br />

nicht sachlich, son<strong>der</strong>n polemisch zu unterrichten, nicht an den Verstand, son<strong>der</strong>n an Emotionen<br />

zu appellieren. Im Zentrum <strong>der</strong> 'gegnerischen' Kritik standen die populären Produkte<br />

aus dem Hause <strong>der</strong> SVA: die Broschüre „Kernenergie: Sicher, Sauber, Unentbehrlich, Unerschöpflich“,<br />

die zwischen 1971 <strong>und</strong> 1973 in einer Auflage <strong>von</strong> über einer Million (!) Exemplaren<br />

an die schweizerischen Haushalte verteilt wurde, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Film „Energie 2000“. 371<br />

Aus gewissen Äusserungen <strong>von</strong> B<strong>und</strong>esrat Bonvin lässt sich schliessen, dass man insbeson<strong>der</strong>e<br />

auf Seiten <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esexperten Mühe hatte zu begreifen, dass es nicht einfach richtige<br />

<strong>und</strong> falsche Argumente gab. Noch an <strong>der</strong> Jubiläumsveranstaltung zum 25. Jahrestag <strong>der</strong><br />

Gründung <strong>der</strong> SVA im November 1983 erklärte Walter Winkler, <strong>der</strong> die SVA zwischen 1971<br />

<strong>und</strong> 1978 präsidiert hatte:<br />

„Die Wahrheit über die Kernenergie - <strong>und</strong> es gibt eine solche Wahrheit, die über je<strong>der</strong><br />

wissenschaftlichen Kontroverse steht - wird sich über kurz o<strong>der</strong> lang durchsetzen<br />

müssen.“ 372<br />

Wo diese Wahrheit nach Meinung Winklers liegt, ist unschwer zu erraten.<br />

Doch <strong>der</strong> Kampf entflammte nicht nur im Bereich <strong>der</strong> Argumente, son<strong>der</strong>n auch in demjenigen<br />

<strong>der</strong> Argumentierenden. Die Befürworter monierten, dass sich unter den Gegnern keine<br />

„wirklichen“ Fachleute befänden, dass die „wahren Autoritäten“ <strong>der</strong> Atomphysik auf ihrer<br />

Seite stünden. Die Gegner hielten dagegen, dass zu ihrem Lager durchaus anerkannte Wissenschaftler<br />

<strong>der</strong> Physik gehörten, <strong>und</strong> beriefen sich ansonsten auf Publikationen aus <strong>der</strong> internationalen<br />

Fachpresse. 373<br />

Ab etwa 1970 sahen sich die Atomfachleute mit einer frappanten Erosion ihrer Expertenmacht<br />

konfrontiert, welche gleich auf drei Ebenen einsetzte. Erstens wurde die Unabhängigkeit<br />

<strong>der</strong> Experten in Zweifel gezogen. Da die Fachleute <strong>der</strong> Privatwirtschaft <strong>und</strong> des B<strong>und</strong>es<br />

gemeinsam auftraten, wurden sie auch gemeinsam als Interessensvertreter desavouiert. Bald<br />

schon wurde <strong>der</strong> Ruf nach unabhängigen Experten laut. Ausgehend <strong>von</strong> <strong>der</strong> Region Basel<br />

drang diese For<strong>der</strong>ung 1972 auf die B<strong>und</strong>esebene vor. 374<br />

Zweitens wurde nun auch die Kompetenz <strong>der</strong> Atomfachleute in Frage gestellt. Mit <strong>der</strong> Ausdehnung<br />

des Atomenergiediskurses auf immer weitere Belange - <strong>von</strong> technischen auf medizinische,<br />

ökologische, wirtschaftliche <strong>und</strong> soziale Fragen - wurden die Kompetenzbereiche<br />

<strong>der</strong> Spezialisten völlig gesprengt. Einerseits for<strong>der</strong>te man nun die Erweiterung <strong>der</strong> Exper-<br />

370 Häsler, S. 116f.<br />

371 Die Auflage <strong>der</strong> Broschüre: Winkler, S. 4. Kritische Kommentare schrieben Konradin Kreuzer zur Broschüre<br />

<strong>und</strong> die AGU zum Film. In: SN, 8/1973, S. 14-16.<br />

372 Winkler, S. 3. Der reichlich selektive Rückblick Winklers auf die öffentliche Kontroverse um die Atomenergie<br />

steht übrigens genau in <strong>der</strong> Tradition dieses Kampfes um die 'Wahrheit'. Zu Bonvin siehe Abschn. 5.1.<br />

373 Befürworter: z.B. Feuz u.a., S. 32f. Gegner: z.B. IV, SGU, „Offener Brief an die SVA“ (siehe Abschn. 5.3.3); SBN<br />

1974, S. 12-14 (siehe Abschn. 5.4).<br />

374 Feuz u.a., S. 36, Häsler, S. 116-118. Vgl. Zürcher, S. 52 <strong>und</strong> zu den Debatten im B<strong>und</strong>esparlament Favez, S. 151-<br />

153.

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