Abschied von Wachstum und Fortschritt - Technikgeschichte der ...
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Patrick Kupper: Umweltbewegung <strong>und</strong> Atomenergie ETH Zürich / <strong>Technikgeschichte</strong> / Preprint 2 / Seite 25<br />
• In <strong>der</strong> welschen Schweiz wurden auf kantonaler Ebene die ersten grünen Parteien<br />
gegründet. Auffallen<strong>der</strong>weise entstanden diese gerade in den Regionen, in denen die<br />
Umweltbewegung schwach war. Dort, wo die Umweltbewegten glaubten, in einer<br />
starken Position zu sein, versuchten sie nämlich, ihren Anliegen innerhalb <strong>der</strong> etablierten<br />
Parteien Gehör zu verschaffen. 103<br />
Die Wende schlug sich auch auf semantischer Ebene nie<strong>der</strong>: binnen weniger Monate setzte<br />
sich um 1970 <strong>der</strong> Begriff „Umwelt“ durch, als Bezeichnung für die die Menschen umgebende<br />
Natur. Er verdrängte bisherige Begriffe völlig: Der „Immissionsschutz“ <strong>der</strong> Motion Bin<strong>der</strong><br />
fand 1971 als „Umweltschutz“ den Weg in die Verfassung. 104 Der Begriff „Lebensraum“, <strong>der</strong><br />
noch dem grossen ETH-Symposium <strong>von</strong> 1970 den Titel gegeben hatte, verschwand allmählich.<br />
105<br />
Welches waren die Triebfe<strong>der</strong>n dieses Wandels? Es ist bereits erläutert worden, dass <strong>der</strong><br />
Wandel nicht auf die Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Umweltbedingungen direkt zurückgeführt werden<br />
kann, son<strong>der</strong>n auf gesellschaftlichen Interpretationen dieser Verän<strong>der</strong>ungen beruhte, für die<br />
<strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> „1970er Diagnose“ eingeführt worden ist.<br />
Ein entscheiden<strong>der</strong> Impuls für diese Diagnose kam aus dem Bereich <strong>der</strong> Wissenschaften.<br />
Gr<strong>und</strong>legende Innovationen fanden in den 60er Jahren in den naturwissenschaftlichen Disziplinen<br />
statt; insbeson<strong>der</strong>e die Siegeszüge <strong>der</strong> Ökologie <strong>und</strong> <strong>der</strong> Kybernetik beeinflussten<br />
die Analyse <strong>der</strong> Mensch-Umwelt-Beziehungen nachhaltig. Das neue wissenschaftliche Denken<br />
fusste auf neuen Modellen <strong>und</strong> verwendete neue Begriffe. Die neuerf<strong>und</strong>ene Welt setzte<br />
sich aus komplexen, interdependenten „(Öko-)Systemen“ zusammen, in denen „biologische<br />
Gleichgewichte“ herrschten <strong>und</strong> sich „(natürliche) Kreisläufe“ abspielten; o<strong>der</strong> die sich nach<br />
<strong>der</strong> durch den Bericht „Grenzen des <strong>Wachstum</strong>s“ weltbekannt gewordenen, kybernetischen<br />
Methode <strong>von</strong> Jay W. Forrester durch „rückgekoppelte Regelkreise“ beschreiben liessen. In<br />
<strong>der</strong> Tradition des Holismus sah das ökologische Denken alles mit allem vernetzt <strong>und</strong> das<br />
Einzelne immer auch als Bestandteil des Ganzen. 106<br />
Ausgehend <strong>von</strong> den USA kamen seit Ende <strong>der</strong> 60er Jahre mit ökologischen Methoden arbeitende<br />
Wissenschaftler aus <strong>der</strong> ganzen Welt zu erschreckenden Ergebnissen, die sie fortlaufend<br />
in die (Welt-)Öffentlichkeit trugen. 107 Höhepunkt dieser Publikationen war <strong>der</strong> Bericht<br />
„Grenzen des <strong>Wachstum</strong>s“, <strong>der</strong> im Auftrag des „Club of Rome“ unter <strong>der</strong> Leitung <strong>von</strong> Dennis<br />
Meadows am Massachusetts Institute of Technology (MIT) erarbeitet wurde. Der Bericht<br />
wurde im Sommer 1971 an zwei internationalen Konferenzen in Moskau <strong>und</strong> Rio de Janeiro<br />
vorgestellt <strong>und</strong> erschien 1972 gleichzeitig auf mehrere Sprachen in Buchform. Er untermauerte<br />
die apokalyptischen Zukunftsszenarien früherer Publikationen durch beeindruckende<br />
Computersimulationen <strong>und</strong> löste weltweit heftige Diskussionen aus. 108<br />
In <strong>der</strong> Schweiz traf <strong>der</strong> Bericht auf eine bereits sensibilisierte Leserschaft: Wissenschaftliche<br />
Tagungen, Buchpublikationen, Aktivitäten sozialer Bewegungen <strong>und</strong> Berichte in den Medien<br />
103 Für diese These spricht, dass in Genf, <strong>der</strong> welschen Hochburg <strong>der</strong> Umweltbewegung, erst 1983 eine grüne<br />
Partei gegründet wurde. Der Umweltclub, die Koordinationsstelle <strong>der</strong> schweizerischen Umweltorganisationen<br />
(siehe Abschn. 3.3.5), lehnte 1975 die Bildung einer „Umweltschutzpartei“ ausdrücklich ab, da <strong>der</strong> Umweltschutz<br />
in allen Parteien diskutiert werden müsse. ArW 68.12, Pro, 6.2.1975, S. 4. Zur Geschichte <strong>der</strong> grünen<br />
Parteien in <strong>der</strong> Schweiz siehe Rebeaud.<br />
104 Auf den Ursprung des BV-Artikels in den 60er Jahren verweisen hingegen die spezielle Betonung <strong>der</strong> Luftverschmutzung<br />
<strong>und</strong> des Lärms.<br />
105 Ein weiteres Beispiel ist das „Année politique“ das für die Ausgabe zum Jahr 1972 die Kapitelüberschrift <strong>von</strong><br />
„Natürliche Lebensbedingungen“ in „Erhaltung <strong>der</strong> Umwelt“ än<strong>der</strong>te.<br />
106 Zu den Entwicklungen in den Wissenschaften siehe: Trepl; Gloy 1995, 1996; Wanzek, S. 29-47.<br />
107 Einen Überblick über diese Publikationen bietet Hermand, S. 128-140.<br />
108 Meadows. Mit den „Grenzen des <strong>Wachstum</strong>s“ befasste sich in den folgenden Jahren eine grosse Zahl <strong>von</strong><br />
Publikationen. Eine historische Aufarbeitung <strong>der</strong> Diskussion fehlt aber ebenso wie eine Darstellung <strong>der</strong> Geschichte<br />
des Club of Rome.