Abschied von Wachstum und Fortschritt - Technikgeschichte der ...
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Patrick Kupper: Umweltbewegung <strong>und</strong> Atomenergie ETH Zürich / <strong>Technikgeschichte</strong> / Preprint 2 / Seite 118<br />
wobei sie einerseits auf schlechte Erfahrungen verwiesen - vergangene Fehlschläge - <strong>und</strong><br />
an<strong>der</strong>erseits auf die unfassbaren Dimensionen <strong>der</strong> Probleme aufmerksam machten. Das<br />
Misstrauen gegenüber Versprechen technischer Lösungen hat ihren Ausdruck in <strong>der</strong> bekannten<br />
Metapher vom „Faustischen Handel“ gef<strong>und</strong>en.<br />
Für die Entwicklung <strong>von</strong> Wirtschaft, Technik <strong>und</strong> Gesellschaft stellten die Umweltschützer<br />
Alternativen zur Diskussion, die den „Übergang vom <strong>Wachstum</strong> zum Gleichgewicht“ <strong>und</strong><br />
einen Verzicht auf die Atomenergie ermöglichen sollten: Die wirtschaftliche Praxis wollten<br />
sie durch das Vermeiden <strong>von</strong> Verschwendung optimieren; „sanfte Technologien“ sollten<br />
erforscht <strong>und</strong> angewandt, die gesellschaftliche Entwicklung in „sanfte“ Bahnen umgelenkt<br />
werden. 520<br />
Ihre Handlungsweise begründeten die Umweltschützer zum einen mit Befürchtungen: Die<br />
Menschheit sei daran, ihre eigenen Lebensgr<strong>und</strong>lagen zu zerstören, das Damoklesschwert<br />
<strong>der</strong> Ökokatastrophe hänge über ihr. Aber sie waren auch ob <strong>der</strong> Ergebnisse <strong>der</strong> vergangenen<br />
Entwicklung ernüchtert. Das Manifest beginnt mit den Sätzen:<br />
„Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Bevölkerung unseres Landes <strong>von</strong> r<strong>und</strong> 4,5 auf 6,3<br />
Millionen zugenommen. In <strong>der</strong>selben Zeitspanne hat sich das Volkseinkommen vervierfacht.<br />
Von einer solchen Entwicklung hätte man früher erwartet, sie mache die<br />
Menschen glücklicher. Diese Erwartung hat sich als Illusion erwiesen.“ 521<br />
Die Umweltorganisationen kritisierten die zeitgenössische „Zivilisation“ <strong>und</strong> postulierten<br />
eine Neuorientierung <strong>der</strong> Werte: Sie redeten nun <strong>von</strong> „Lebensstil“, „Lebenshaltung“ <strong>und</strong><br />
„Lebensqualität“. Nicht die Menge produzierter Güter, son<strong>der</strong>n die Möglichkeiten, „Sinn“<br />
zu stiften <strong>und</strong> „glücklich“ zu sein, sollen Ziele <strong>der</strong> Wohlstandsgesellschaft sein. Neben die<br />
Furcht vor einer Apokalypse trat die Vision einer erstrebenswerten, besseren <strong>und</strong> sinnerfüllteren<br />
Welt.<br />
Die Zeithorizonte, die die Umweltschützer in ihre Analysen einbezogen, erstreckten sich<br />
über Jahrzehnte, Jahrh<strong>und</strong>erte o<strong>der</strong> gar Jahrtausende. Die Entwicklung <strong>von</strong> Wirtschaft <strong>und</strong><br />
Gesellschaft, des Rohstoffverbrauchs <strong>und</strong> <strong>der</strong> Umweltbelastung betteten sie in diese langfristige<br />
Perspektive ein, ebenso die Problematik <strong>der</strong> radioaktiven Abfälle: Die Kontrolle dieser<br />
Abfälle erfor<strong>der</strong>e eine gesellschaftliche Stabilität, die niemals erreichbar sei. Das Manifest<br />
illustrierte dies mit einem Gedankenexperiment, in dem die alten Ägypter solche Abfälle<br />
hinterlassen. Ernst Friedrich Schumacher zählte auf, was alles in <strong>der</strong> Welt eines Atomzeitalters<br />
nie mehr geschehen dürfe, <strong>und</strong> betonte, dass das kurze Wörtchen „nie“ enorm lange<br />
Zeiträume meine. 522<br />
Die Umweltschützer for<strong>der</strong>ten ein sofortiges Handeln. Der in den letzten Jahrzehnten mit<br />
immer höherer Geschwindigkeit beschrittene Entwicklungspfad wurde als Irrweg beurteilt,<br />
<strong>der</strong> eine unverzügliche Kurskorrektur notwendig mache. Viele negative Folgen <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />
Entwicklung würden zwar erst in einiger Zeit spürbar, den Preis dafür müssten<br />
dann aber die zukünftigen Generationen bezahlen. Die Verantwortung ihnen gegenüber<br />
gebiete schon heute zu handeln. Ein auf lange Frist ausgelegter Plan des gesellschaftlichen<br />
Wandels unter ökologischen Gesichtspunkten solle auch soziale Krisen vermeiden, die ein<br />
plötzlicher, durch natürliche Grenzen erzwungener Zusammenbruch mit sich bringen würde.<br />
523<br />
Ort des Diskurses war die Schweiz als Teil <strong>der</strong> Welt. Die Umweltschützer rechneten mit globalen<br />
Vorräten an Ressourcen <strong>und</strong> globalen Umweltbelastungen o<strong>der</strong> verglichen den Ener-<br />
520 „Übergang vom materiellen <strong>Wachstum</strong> zum Gleichgewicht“ ist <strong>der</strong> Titel eines Aufsatzes <strong>von</strong> NAWU-<br />
Mitarbeiter Samuel Mauch, <strong>der</strong> im Umweltjournal erschien. Umweltjournal, 6/1972, S. 23-29.<br />
521 SBN 1974, S. 1.<br />
522 Vergleich mit den alten Ägyptern: ebd., S. 13. Zu Schumacher siehe Abschn. 5.2.2.<br />
523 Vgl. die Positionen des WWF ab 1973 (Abschn. 5.3.4).