Abschied von Wachstum und Fortschritt - Technikgeschichte der ...
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Patrick Kupper: Umweltbewegung <strong>und</strong> Atomenergie ETH Zürich / <strong>Technikgeschichte</strong> / Preprint 2 / Seite 90<br />
„Bis jetzt hat man generell zu kurzfristig geplant <strong>und</strong> damit zur Verschärfung <strong>der</strong> Umweltprobleme<br />
beigetragen. (…) Die Lösung <strong>der</strong> aufgeworfenen Frage ist unerlässlich,<br />
denn einige h<strong>und</strong>ert Kühltürme in unserm Land sind <strong>und</strong>enkbar.“ 397<br />
Darauf wurde das Thema AKW wie<strong>der</strong> zur Seite gelegt. Der Jahresbericht 1971 erwähnt (im<br />
Abschnitt „Gewässerschutz, Immissionsschutz“) „Atomkraftwerke“ dann auch nur in einer<br />
stichwortartigen Aufzählung weiterer <strong>von</strong> Vorstand <strong>und</strong> Rat diskutierter Fragen - nach „Motorschlitten“<br />
<strong>und</strong> vor „Kunststoffe“. 398<br />
Wir können ein erstes Zwischenfazit ziehen: Die Kühlturmpläne in Kaiseraugst brachten also<br />
die Atomenergie wie<strong>der</strong> auf die Traktandenliste <strong>der</strong> SBN-Vorstandssitzungen. In den durch<br />
die Person Bächtolds geprägten Diskussionen dominierte die Perspektive des Landschaftsschutzes,<br />
welche die Atomkraftwerke wegen ihrer Kühltürme als ästhetisches Problem analysierte<br />
<strong>und</strong> deshalb die Wahl des Standortes als entscheidende Frage identifizierte. Die<br />
Problematik des exponentiell wachsenden Bedarfs wurde zwar erkannt, aber noch nicht<br />
durchgedacht. So wurde <strong>der</strong> Bau <strong>von</strong> Atomkraftwerken nicht gr<strong>und</strong>sätzlich in Frage gestellt;<br />
das Vertrauen in die Möglichkeiten <strong>der</strong> Technik <strong>und</strong> die Lösungskompetenzen <strong>der</strong> Institutionen<br />
des B<strong>und</strong>es war weiterhin ungebrochen. Der wesentliche Meinungswandel beim SBN<br />
fand also nicht infolge des 'Kühlturmentscheids' statt.<br />
Lei<strong>der</strong> konnten die folgenden Diskussionen in Vorstand <strong>und</strong> Rat nicht mehr mit <strong>der</strong>selben<br />
Akribie rekonstruiert werden, da <strong>der</strong> Vorstand anfangs 1972 beschloss, zum System des Beschlussprotokolls<br />
überzugehen. 399<br />
Der nächste Anstoss zur AKW-Thematik kam aus <strong>der</strong> Ostschweiz. Am 27. März 1972 unterrichtete<br />
die NOK erstmals die Öffentlichkeit über ihr AKW-Projekt in Rüthi im sanktgallischen<br />
Rheintal. 400 Anfangs Mai 1972 wandte sich dann <strong>der</strong> Sanktgallisch-Appenzellische Naturschutzb<strong>und</strong><br />
(SGANSB), Sektion des SBN, mit einer dreiseitigen Erklärung „Atomkraftwerk<br />
Rüthi unerwünscht“ an die Presse.<br />
Nachdem sich die Naturschützer über die ihres Erachtens völlig ungenügende Informationspolitik<br />
<strong>der</strong> NOK, die erst die fixfertige Lösung auf den Tisch gelegt habe, beschwert haben,<br />
legen sie ihre Gründe dar, wieso ein AKW in Rüthi unerwünscht sei. Ihre Argumente<br />
richten sich hauptsächlich gegen den Standort, <strong>der</strong> ihnen in dreifacher Hinsicht unzweckmässig<br />
erscheint: Da Rüthi nicht im Schwerpunkt des Verbrauchs liege, sei ein massiver<br />
Ausbau <strong>der</strong> Hochspannungsleitungen erfor<strong>der</strong>lich. Zweitens bestehe keine Aussicht, die<br />
Abwärme sinnvoll zu verwenden; diese werde daher verschleu<strong>der</strong>t, was bedenklich sei hinsichtlich<br />
„begrenzter Rohstoffreserven <strong>der</strong> Erde“ <strong>und</strong> den klimatischen Konsequenzen <strong>der</strong><br />
Wärmeabgabe an die Atmosphäre. Neue Atomkraftwerke müssten in unmittelbarer Nähe<br />
grosser Städte gebaut werden, „wo sie zu gegebener Zeit mit einem Fernheizkraftwerk […]<br />
für die Stadt kombiniert werden können.“ Drittens schliesslich störe das AKW das Landschaftsbild.<br />
„Zur Skyline <strong>von</strong> Schwamendingen o<strong>der</strong> Oberwinterthur mag ein Kühlturm<br />
passen.“ Ausserdem bezweifelt die SGANSB die Energiemangel-Argumentation <strong>der</strong> Elektrizitätswerke:<br />
„Für die Umweltschutzkreise sind demgegenüber die Zeiten vorbei, wo '<strong>der</strong><br />
Bedarf' das Mass aller Dinge ist.“ Es sei „auf jeden Fall in absehbarer Zukunft nicht mehr<br />
397 ArSBN, B 1.1, ProV 62/9, 8.9.1971, S. 2f. Bächtold wies in diesem Zusammenhang auf die beiden durch das<br />
EVED neugebildeten Eidg. Kommissionen hin. Die eine hatte den Auftrag, die Auswirkungen <strong>der</strong> Kühlturmprojekte<br />
in Kaiseraugst <strong>und</strong> Leibstadt zu überprüfen („Kühlturmkommission“), die an<strong>der</strong>e untersuchte verschiedene<br />
Kühlsysteme, wobei sie insbeson<strong>der</strong>e die Verwendung <strong>von</strong> Abwärme zur Fernheizung <strong>von</strong> Städten<br />
prüfte. Vgl. SPJ, 1971, S.98. Bächtold war Mitglied bei<strong>der</strong> Kommissionen.<br />
398 Jahresbericht 1971, SN, 3/1972, S. 42.<br />
399 ArSBN, B 1.1, ProV 63/11, 12.1.1972.<br />
400 Annexe 1, S. 294f.