Buch Magazin Oktober 2013
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INTERVIEW<br />
anders machen, nicht die<br />
Klischees einer Welt interessieren<br />
mich, sondern die Welt selbst,<br />
nicht nach Menschen aus der<br />
Retorte suche ich, sondern nach<br />
lebendigem Leben. Und glauben<br />
Sie mir, meine Figuren überraschen<br />
mich beständig im Prozess<br />
des Schreibens, d.h. sie haben ein<br />
eigenes Leben begonnen.<br />
Manchmal schreibe ich nur mit,<br />
was sie tun. Ich kann es mir nicht<br />
aussuchen, auch wenn ich es mir<br />
anders gewünscht hätte. Meine<br />
Wünsche zählen beim Schreiben<br />
nicht. Fiktion und Fakten haben<br />
sich längst zu einer Erzählung<br />
vereint, die ich protokollieren darf<br />
und muss.<br />
Wäre es da leichter, einen ganz<br />
fiktiven historischen Roman zu<br />
schreiben?<br />
Ich weiß nicht, was ganz fiktiv ist.<br />
Wenn es um eine vollkommen<br />
ausgedachte Handlung geht, stellt<br />
sich die Frage, woraus etwas gedacht<br />
wird: aus Fakten oder aus<br />
Warum sollte es im<br />
Roman anders als im<br />
Leben zugehen, warum<br />
sollten im Roman die<br />
Menschen eindimensionaler<br />
sein als im Leben?<br />
Vorurteilen und Wünschen des<br />
Autors. Es stehen sich eben nicht<br />
eine in der Vergangenheit so und<br />
nicht anders abgelaufene Handlung<br />
und eine vollkommen ausgedachte<br />
Handlung gegenüber. Die<br />
Geschichten unterscheiden sich<br />
nicht im Maß an Fiktionalität, sondern<br />
im Maß an Authentizität, an<br />
Wirklichkeit und an Wahrhaftigkeit.<br />
Was inspirierte Sie dazu, diesen<br />
Roman zu schreiben?<br />
Eigentlich nur zwei Dinge: eine<br />
Situation, nämlich ein Staat, der<br />
vom Untergang bedroht ist, weil<br />
seine Elite korrupt, bürokratisch,<br />
egoistisch und parasitär ist, eine<br />
Gesellschaft, die jegliche Dynamik<br />
eingebüßt hat, und die Hauptfiguren:<br />
Alexios Angelos und<br />
Loukas Notaras. Aber ich verrate<br />
Ihnen etwas: tatsächlich stand am<br />
Anfang Anna Palaiologina.<br />
Loukas und Alexis sind so unterschiedlich,<br />
wie sie nur sein<br />
könnten, dennoch sind beide<br />
weder ganz gut noch ganz böse.<br />
Wen finden Sie sympathischer?<br />
Und warum?<br />
Sie sind keine Abziehbilder, keine<br />
Comicfiguren, sondern Menschen,<br />
die wie alle Menschen die<br />
Gern hätte ich mit<br />
Loukas den jüdischen<br />
Händler Jakub Alhambra<br />
in Bursa besucht.<br />
Veranlagung zum Engel und zum<br />
Teufel in sich tragen, die sich<br />
entwickeln, die ihre Erfahrungen<br />
machen, kurz: die leben. Mit<br />
Figuren, die entweder nur böse<br />
oder nur gut sind, würde ich mich<br />
langweilen. Verunsichern uns in<br />
unserem Leben nicht immer wieder<br />
Menschen, weil sie etwas tun,<br />
was wir nie von ihnen erwartet<br />
haben, oder anders reagieren, als<br />
wir erwarteten? Warum sollte es<br />
im Roman anders als im Leben<br />
zugehen, warum sollten im<br />
Roman die Menschen eindimensionaler<br />
sein als im Leben? Ich<br />
kann Ihnen nicht sagen, wer mir<br />
sympathischer ist. Das Urteil steht<br />
mir als Autor nicht zu. Ich habe<br />
die Figuren zu erzählen, nicht sie<br />
zu beurteilen. Das Privileg gebührt<br />
dem Leser.<br />
Wären die beiden auch ohne den<br />
Kampf um Eirene Feinde geworden?<br />
Sie vertreten unterschiedliche<br />
Vorstellungen vom Leben und<br />
von der Zukunft Konstantinopels,<br />
Positionen, die sich gegenseitig<br />
ausschließen. Das ist tragisch,<br />
denn ihre Zusammenarbeit hätte<br />
die Stadt retten können, da sie<br />
beide Richtiges und Falsches vertreten.<br />
Man kann ihnen das nicht<br />
vorwerfen, denn ihre Lebenserfahrung<br />
unterscheidet sich gravierend.<br />
Die große Geschichte erzählt<br />
sich in der kleinen Geschichte einzelner<br />
Menschen. Eirene muss<br />
sich entscheiden, welcher Lebensentwurf<br />
für sie der richtige ist.<br />
Eirene ist nach der griechischen<br />
Mythologie ja auch die Göttin des<br />
Friedens und des Wohlstandes.<br />
Wenn Sie in die Story reinspringen<br />
und sie in einer Szene begleiten<br />
könnten, wo würden Sie<br />
es tun?<br />
Gern hätte ich mit Loukas den<br />
jüdischen Händler Jakub<br />
Alhambra in Bursa besucht oder<br />
den Prinzen Murad in Amasia.<br />
Gern wäre ich auch mit Anna und<br />
Nikolaus von Kues, den ich tatsächlich<br />
gern kennengelernt hätte,<br />
in Konstantinopel auf Bücherjagd<br />
gegangen. Aber ein wenig habe<br />
ich ihn ja kennengelernt.<br />
Beim Lesen habe ich das Byzanz<br />
von damals kennengelernt, ich<br />
konnte es riechen und fühlen.<br />
Wie haben Sie dafür recherchiert?<br />
Wenn die Erzählung diese Dichte<br />
erreicht, freut mich das sehr, denn<br />
ich möchte den Leser in diesen<br />
fremden Ort und diese andere<br />
Zeit entführen, und mühe mich<br />
redlich, dass der Roman wie eine<br />
Zeitmaschine funktioniert. Ob mir<br />
das gelang, darüber muss der<br />
Leser entscheiden, aber ich tue<br />
zumindest alles dafür, was in meiner<br />
Macht steht – und die Voraussetzung<br />
dafür ist die Recherche.<br />
So notwendig es ist, vor Ort zu<br />
sein, ist es erstaunlicherweise<br />
nicht das Wichtigste, denn Istanbul<br />
ist nicht mit Konstantinopel<br />
identisch. Aber auch das Konstantinopel<br />
des Jahres 1450 ist<br />
nicht die Stadt des Jahres 1220.<br />
Bibliotheken, Archive und Ausstellungen<br />
sind das wichtigste<br />
Hilfsmittel. Sie müssen Texte aus<br />
dieser Zeit lesen, wenn es geht<br />
banale neben hochphilosophische,<br />
theologische neben beispielsweise<br />
Gebrauchsanweisungen wie<br />
Malerhandbücher und Medizin-<br />
30 | BUCH-MAGAZIN