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Das kennen Sie auch<br />
von Angelika Euler<br />
Wir auf der<br />
anderen Seite<br />
Angelika Euler<br />
hat 4 Kinder und<br />
6 Enkel. Jeden<br />
Monat erzählt sie aus<br />
ihrem alltäglich<br />
turbulenten Leben.<br />
Es ist ein Ros entsprungen“<br />
singen wir. Dann<br />
„Stille Nacht“ und „Alle<br />
Jahre wieder“. Wie wahr,<br />
jedes Jahr im Advent<br />
stehe ich hier, als Teil<br />
unseres Kirchenchors, im<br />
Altersheim unseres<br />
Stadtviertels. Ein ökumenischer<br />
Gottesdienst,<br />
von uns musikalisch umrahmt.<br />
Und wie jedes<br />
Jahr empfinde ich diese<br />
unüberbrückbare Kluft.<br />
„Wir“, der Chor, auf der<br />
Bühne. Und unten „die<br />
anderen“, die Alten.<br />
Viele im Rollstuhl. Manche<br />
mit leerem Blick.<br />
„Wir“ – sind nicht nur „die<br />
im Chor“, sondern auch<br />
die, die noch „draußen“<br />
sind. Draußen im Leben.<br />
Wir sind die Gebenden<br />
(bilden wir uns zumindest<br />
ein!); die anderen<br />
die Nehmenden (bilden<br />
sie sich ein).<br />
Sie nehmen dankbar<br />
an, was sie kriegen:<br />
Essen, Pflege, hie und da<br />
einen Besuch und<br />
manchmal einen laienhaften<br />
Kunstgenuss. Sie<br />
sollen dankbar sein. Dass<br />
wir ihnen einen Splitter<br />
unserer Zeit schenken.<br />
So wie meine Mutter. Die<br />
in diesem Jahr mit dem<br />
Weihnachtsfest am 23.<br />
vorliebnehmen muss.<br />
Denn am 24. bin ich nicht<br />
bei ihr, sondern bei den<br />
„Lebenden“! Den Kindern<br />
und Enkeln. Keine Zeit<br />
für die alte, demente<br />
Frau. Sie wird es eh nicht<br />
merken. Ob es der 23.<br />
oder der 24. ist, was<br />
macht schon den Unterschied?<br />
Ist es schlecht,<br />
so zu denken? Ein ungutes<br />
Gefühl brennt in<br />
mir. Scham. Und auch ein<br />
wenig Angst.<br />
Wie lange noch?<br />
Bin ich vielleicht auch<br />
bald auf der „anderen<br />
Seite“? In dieser Art<br />
Schattenreich. Lebe ich<br />
dann auch in einem Altenheim<br />
und schaue zu,<br />
wie andere, Jüngere, musizieren,<br />
singen? Hinter<br />
einer Wand, die mich<br />
trennt vom „wahren“<br />
Leben, das für mich nur<br />
noch in blassen Erinnerungen<br />
existiert …<br />
Gedanken wie diese kommen,<br />
hin und wieder. Und<br />
sie vergehen. Denn heute,<br />
jetzt, bin ich noch da. Auf<br />
der Bühne der Lebendigen.<br />
Eine, die noch<br />
helfen kann. Nicht eine,<br />
die belastend ist. Nicht<br />
eine, die nichts mehr<br />
„leisten“ kann. Aber wie<br />
lange noch?<br />
Was denken Sie? Haben<br />
Sie auch Angst davor, von<br />
anderen abhängig zu<br />
sein? Erzählen Sie uns<br />
von Ihren Gedanken über<br />
das Älterwerden (Adresse<br />
Seite 3). Wir freuen uns<br />
auf Ihre Nachricht.<br />
Foto: Peter Rigaud/shotview photographers; Styling: Katalin Kiss; Kleidung: www.peterhahn.de<br />
46 1/ 2013