DAS ARGUMENT - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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868 Besprechungen<br />
Informationen bietet, sondern auch deshalb, weil seine Analysen am<br />
Material ihn zu weiterbringenden Aussagen führen, die mit den<br />
formalen Kategorien Riggs' nicht hätten gewonnen werden können.<br />
Germanns Untersuchung besteht neben der theoretischen Einleitung<br />
aus-drei Kapiteln: Im ersten Teil analysiert er die Formen der tunesischen<br />
Verwaltung unter der französischen Kolonialherrschaft und<br />
ihre Entwicklung in der postkolönialen Phase. Komplementär dazu<br />
steht die Analyse der Neo-Destour-Partei Tunesiens, insofern diese<br />
Partei, die den Unabhängigkeitskampf führte, heute mit der Verwaltung<br />
identisch ist, wenngleich sie noch einen von der Staatsadministration<br />
unabhängigen eigenen Verwaltungsapparat unterhält.<br />
Schließlich geht Germann im letzten Teil auf das tunesische Genossenschaftsexperiment<br />
ein; dies, weil der agrarkobperative Sektor in<br />
Tunesien keine Selbstverwaltung betreibt, sondern, wie Germann<br />
richtig sagt, „ein Verwaltungszweig der Staatsadministration" ist.<br />
Das französische Kolonialsystem löste durch den Anschluß Tunesiens<br />
an die kapitalistischen Strukturen der Metropole die autochthonen<br />
vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen allmählich auf, ohne<br />
jedoch die mit ihnen verbundenen Herrschaftsformen aufzugeben.<br />
„Bewußt verkehrte die Protektoratsverwaltung nur mit den einheimischen<br />
,Notabein' oder Respektspersonen, zog sie zur Mitarbeit<br />
heran und versuchte so zu ihrem eigenen Vorteil das traditionelle<br />
Sozialgefüge zu verewigen" (34). Somit ließ die Einführung neuer<br />
Sozialstrukturen kein neues Bewußtsein der Unterdrückten entstehen;<br />
„jene seit Jahrhunderten gegen das Übermaß an Herrschaft<br />
entwickelte Waffe: träge, dumpfe Passivität" (ibid.), blieb auch<br />
erhalten. Allein in dem modernen ökonomischen Sektor Tunesiens,<br />
wo eine intensive Kolonisation stattfand, wurde eine direkte moderne<br />
französische Verwaltung installiert, die neben einer modernen<br />
Infrastruktur fast ausschließlich den europäischen Siedlern zugute<br />
kam. Zusätzlich gab es eine Kontrollverwaltung, deren Aufgabe es<br />
war, die aufrechterhaltene, in den Dienst des Kolonialsystems gestellte<br />
einheimische Verwaltung zu überwachen (cf. 32), so daß selbst<br />
die Kollaborateure keine autonomen Herrschaftszonen hatten. Im<br />
modernen Verwaltungssektor herrschte das bürgerliche egalitäre.<br />
Recht, das in Tunesien ausschließlich für Europäer galt, während in<br />
dem traditionellen Sektor tradiertes obrigkeitliches Recht verbindlich<br />
war, so daß man mit Germann von einem Rechtsdualismus<br />
reden kann. Nicht nur eine Analogie, sondern auch ein Korrelat dazu<br />
„stellt der Zusammenprall der kolonialen expansiv-kapitalistischen<br />
Wirtschaft mit der archaischen Sübsistenzwirtschaft der Tunesier<br />
dar, welcher nur zur Desintegration der letzten führte" (33).<br />
Alis diesem Herrschaftssystem läßt sich auch die Entstehung des<br />
tunesischen Nationalismus erklären: Die frühe, großbürgerliche<br />
Variante begnügte sich noch damit, rechtliche Gleichstellung mit den<br />
Europäern zu verlangen. Die radikalere kleinbürgerliche Variante<br />
der Neo-Destour-Partei forderte die Öffnung des modernen Verwaltungsapparats<br />
für tunesische Arbeitssuchende. Der tunesische Nationalismus<br />
wurde „geboren aus der Enttäuschung der Eliten heraus,