DAS ARGUMENT - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Soziale Bewegung und Politik 869<br />
denen der öffentliche Dienst versperrt war" (40). Eine aus solche»<br />
Motiven erwachsene Unabhängigkeitsbewegung muß sich naturgemäß<br />
mit dem Übergang vom Rechtsdualismus zur Rechtsgleichheit,<br />
von der europäisch-kolonialen zur tunesisch bestimmten Verwaltung<br />
begnügen; eine revolutionäre Dekolonisation, d. h. die Aufhebung<br />
aller kolonialen Strukturen und der ihnen inhärenten Beziehungen<br />
der Abhängigkeit und Dominanz, würde den Rahmen einer so strukturierten<br />
Unabhängigkeitsbewegung sprengen.<br />
Dieser Hintergrund erklärt, wie eine antikolonialistische Bewegung,<br />
hier verkörpert in der Neo-Destour-Partei, nach der Dekolonisation<br />
zu einer konservativen <strong>Institut</strong>ion, zum Träger des Status quo<br />
kolonialer Strukturen wird. Germanns zentrale These richtet sich<br />
gegen die Behauptung des Schweden Lars Rudebeck, daß die Neo-<br />
Destour-Partei nach Erlangung der nationalen Souveränität den<br />
Staatsapparat erobert und nach ihren Vorstellungen geformt habe.<br />
Dagegen betont der Verfasser sehr richtig, daß es genau umgekehrt<br />
war: Die Unabhängigkeitspartei wurde vom kolonialen Verwaltungsapparat<br />
absorbiert (cf. 203). Die Partei war somit „ein spezialisierter<br />
Teil der allgemeinen Staatsverwaltung" (94). Eine Partei, die<br />
sich einst als Befreiungsbewegung der Massen begriffen hatte und<br />
nun durch den Genuß der alten kolonialen Privilegien zu einem<br />
Herrschaftsträger geworden ist, kann aber bisherige Eigenschaften —<br />
in abgewandelter Form — als Mittel der Manipulation beibehalten.<br />
Ihren bisher antikolonialistischen Propagandaapparat, der z. B. „mit<br />
gütlichen Mitteln des Zuredens und Aufmunterns" arbeitete, läßt die<br />
Partei jetzt „als Alternative zum Polizeieinsatz und zur Anwendung<br />
physischer Gewalt" erscheinen (94). „Die Rolle der Partei besteht<br />
heute darin, die Macht des bestehenden Regimes zu verankern, die<br />
politischen Verhältnisse zu stabilisieren..(95). Sie schaltet jede<br />
Opposition, selbst in ihren eigenen Reihen, aus (92 f.), und dadurch,<br />
daß sie mit der Staatsadministration identisch ist, ist „der Aufstieg<br />
innerhalb der Partei die einzige Möglichkeit der Verbesserung der<br />
sozialen Stellung"