DAS ARGUMENT - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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770 Heiko Haumann<br />
zur Abhängigkeit der Regierung, die sich mit Staatsanleihen im Ausland<br />
verschulden mußte, und von ganzen Industriezweigen führte (im<br />
Donez-Becken wurden vor dem Krieg 85 % des Erzbergbaus und<br />
90 % der Metallurgie vom Auslandskapital kontrolliert). Selbst der<br />
hohe Anteil des Auslandskapitals hatte nicht ausgereicht, um die<br />
Kapitalbedürfnisse zu befriedigen, die nicht zuletzt aus der räumlichen<br />
Ausdehnung Rußlands, aus den riesigen Entfernungen zwischen<br />
Produktions- und Verbrauchsort sowie aus sonstigen ungünstigen<br />
geographischen und klimatischen Verhältnissen herrührten. Den<br />
hochentwickelten Industriezweigen stand eine außerordentlich rückständige<br />
Landwirtschaft gegenüber, die aber 1913 noch 54 %> des<br />
russischen Volkseinkommens erwirtschaftete — die Industrie dagegen<br />
lediglich 22 °/o. Drei Viertel der Bevölkerung lebten auf dem Land,<br />
größtenteils unter erbärmlichen Existenzbedingungen; etwa ebensoviel<br />
konnten weder lesen noch schreiben. Die ursprüngliche kapitalistische<br />
Akkumulation war in Rußland 1917 noch nicht abgeschlossen<br />
und teilweise anders verlaufen als in Westeuropa<br />
Wenngleich die Bolschewiki im Zeitalter des „Imperialismus als<br />
höchstem Stadium des Kapitalismus" 10 eine kurz bevorstehende Revolution<br />
in den kapitalistischen Landern des Westens erwarteten,<br />
nachdem das schwächste Glied der Kette zerrissen war n , gingen sie<br />
von Anfang an mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Kräften<br />
daran, die Probleme, die sich aus der besonderen Entwicklung Rußlands<br />
ergaben, zu lösen und die Grundlagen für einen Übergang zum<br />
Sozialismus zu schaffen. In der ersten Phase nach der Oktoberrevolution<br />
wurden die Initiativen und spontanen Aktionen der Arbeiter und<br />
Bauern, die weit über die ursprünglichen wirtschaftlichen Konzeptionen<br />
der Bolschewiki hinausgingen, begeistert unterstützt. Die negativen<br />
Folgen der planlosen Enteignungen von Betrieben, die katastrophale<br />
Ernährungssituation in den Städten — Hauptgrund für die<br />
sinkende Arbeitsproduktivität —, die politische Krise im Zusammenhang<br />
mit den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk erzwangen<br />
Anfang 1918 ein stärkeres organisatorisches Eingreifen der staat-<br />
9 Marx warnte schon 1877 vor einer einfachen Analogie: Marx/Engels,<br />
Werke (MEW) Bd. 19, S. 111/112. — Für einen detaillierten Überblick über<br />
die russische Wirtschaft vor der Oktoberrevolution vgl. J. Nötzold, Wirtschaftspolitische<br />
Alternativen der Entwicklung Rußlands in der Ära Witte<br />
und Stolypin, Berlin 1966; A. Gerschenkron, Agrarian Policies and Industrialization:<br />
Russia 1861—1917, in: The Cambridge Economic History of<br />
Europe vol. VI/2, Cambridge 1966, S. 706—800; R. Portal, The Industrialization<br />
of Russia, in: ebd., S. 801—872. — Vgl. auch die Folgerungen, die<br />
Lenin 1919 aus dieser Lage und den ersten Erfahrungen nach der Oktoberrevolution<br />
zog: Ökonomik und Politik in der Epoche der Diktatur des<br />
Proletariats, in: Lenin, Werke Bd. 30, S. 91—101.<br />
10 Lenin, Werke Bd. 22, S. 189—309.<br />
11 Für die Herausbildung der <strong>Theorie</strong>, daß wegen der Ungleichmäßigkeit<br />
der kapitalistischen Entwicklung die sozialistische Revolution durchaus<br />
nicht im fortgeschrittensten Land des Kapitalismus, sondern am<br />
schwächsten Kettenglied ausbrechen könne, vgl. Lenins Schriften während<br />
des 1. Weltkrieges (etwa: Bd. 23, S. 314/315, 384—387).