Heft - Institut für Theorie ith
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• S. 70/71, 84/85, 92/93<br />
Die Arbeit, die Pamela Rosenkranz <strong>für</strong> gestaltet hat,<br />
unterbricht ohne weitere Kennzeichnung an drei Stellen des<br />
<strong>Heft</strong>s die Folge der übrigen Beiträge. Wir stossen dort auf<br />
Photographien, die Details von Bildoberflächen in grosser<br />
Nahsicht zeigen. Es ist, als wollte uns Rosenkranz an der intimen<br />
Nähe, welche das Verhältnis eines Künstlers zu seinen<br />
Werken im Atelier kennzeichnet, teilhaben lassen. Wir nehmen<br />
eine Perspektive ein, die nicht das Ganze – wie es Ausstellungsbesucher<br />
später vor sich haben werden – visiert, sondern<br />
Details, als gelte das Augenmerk der taktilen Oberflächenqualität<br />
der Bilder, dem Raum der handwerklichen<br />
Verrichtungen, aus denen sie hervorgegangen sind. Diese<br />
bestanden darin, Farbe auf Bögen der New York Times aufzutragen,<br />
die dann entlang des vorgegebenen Falz’ zusammengeklappt<br />
wurden, wodurch sich beide Seiten aufeinander<br />
abdrückten und eine beide Seiten umspannende und aufeinander<br />
beziehende symmetrische Konfiguration entstand. Das<br />
dünne Zeitungspapier löste sich bei diesem Abklatschprozess<br />
teils mit der Farbe ab, so dass – im Gegensatz zum «klecksographischen»<br />
Verfahren, wie Justinus Kerner es übte und wie<br />
es auch den Bilder des Rorschachtests zugrunde liegt – nicht<br />
einfach eine symmetrische Figur vor neutralem Grund<br />
erzeugt wurde, sondern der Untergrund selbst sich figural<br />
verdoppelte. Das Zusammen- und Aufklappen einer Doppelseite<br />
war die wesentliche bildgenerierende Operation. Im<br />
Grunde ist sie kongruent mit der Handhabung dieses <strong>Heft</strong>es,<br />
wobei der Künstlerin, nicht anders als es einem Leser passieren<br />
wird, wenn er beim Blättern in diesem Magazin ihre<br />
Arbeit entdeckt, beim Aufschlagen der Seiten ein überraschendes<br />
und nicht vorhergesehenes Bild entgegentrat. Einer<br />
solchen Kongruenz des taktilen Nahraums von Produktion<br />
und Rezeption begegnen wir immer wieder in der Buchkunst<br />
der Moderne und insbesondere auch in Dieter Roths Publikationen<br />
der Beidhandzeichnungen. Rosenkranz jedoch variiert<br />
diese Strategie in einem sensiblen Punkt. So nahe liegend<br />
es auch gewesen wäre, sie bringt den Falz ihrer «Rorschachbilder»<br />
mit dem des <strong>Heft</strong>s nicht in Übereinstimmung, und<br />
auch die Ebenen der Bilder und die der Papieroberfläche, auf<br />
der sie reproduziert werden, sind angular gegeneinander verschoben.<br />
Auf andere Weise ist auch hier die «rechte» Orientierung<br />
Thema. Denn die symmetrischen Konfigurationen,<br />
die das Abklatschverfahren entstehen lässt, implizieren so<br />
stark wie wenige andere Bilder einen frontalen Blickpunkt,<br />
spiegeln sie doch die bilaterale Symmetrie des Körpers ihrer<br />
Beschauer und sind nicht zuletzt deshalb Gegenstand jener<br />
projektiven Sehakte, die sich der Rorschachtest in psychodiagnostischer<br />
Absicht zunutze macht. So gewinnt man den Eindruck,<br />
aus dem adäquaten Sichtwinkel der Figuren herausgerückt<br />
zu sein, ja die Achse des Blicks, den die «Rorschachbilder»<br />
auf sich ziehen, mit dem eigenen Blick zu kreuzen.<br />
Oder anders ausgedrückt: Wir sind in eine piktutrale Inszenierung<br />
versetzt, in der sich die Stelle des Augpunktes aufgespalten<br />
hat. Wir wissen gleichsam von einem «richtigen»<br />
Betrachtungsstandort, den wir doch nicht einnehmen können.<br />
Und diese Entzweiung der Perspektive konterkariert<br />
jene imaginäre Dimension des Bildersehens, die Rosenkranz’<br />
Arbeit nicht nur im Motiv der «Rorschachfiguren» anzusprechen<br />
scheint. Wenn wir zuerst den Eindruck gewinnen können,<br />
die Photographien lüden dazu ein, uns in den phänomenalen<br />
Raum des Ateliers und in die Perspektive der Künstlerin<br />
hineinzuversetzen, so erweisen sich am Ende beide als<br />
ihrerseits gespaltene: Ein Intervall ist eingeschoben zwischen<br />
die Position der Malerin, die die Abklatschbilder hergestellt<br />
und jener der Photographin, die sie aufgenommen hat.<br />
• S. 81–91<br />
Der Beitrag Mladen Dolars nähert sich dem Problem der<br />
Zwei von einem lacanianischen Standpunkt aus an. Ausgehend<br />
von der etymologischen Di≠erenz im Lateinischen zwischen<br />
alius bzw. secundus – als Zweites innerhalb einer Serie<br />
von Vielen – und alter – als Anderes von Zweien – führt er<br />
eine grundlegende Unterscheidung zwischen einer zählbaren<br />
und einer unzählbaren Zwei ein. Während die zählbare<br />
Zwei den trivialen Fall einer Figur der Zwei darstellt – eine<br />
Stelle in einer Zahlenreihe, eine Menge unter anderen Mengen<br />
–, markiert die unzählbare Zwei <strong>für</strong> Dolar einen ontologischen<br />
Bruch, der die Zwei als radikal verschieden von der<br />
Eins ausweist und als das hervortreten lässt, was Jacques<br />
Lacan als den «Grossen Anderen» bestimmt hat. Der Grosse<br />
Andere wird durch einen Gegensatz strukturiert, den Dolar<br />
als «lacansche Antinomie» fasst. Der erste Satz dieser Antinomie<br />
lautet: «Es gibt den Grossen Anderen.» Der zweite,<br />
entgegengesetzte Satz lautet: «Der Grosse Andere fehlt.»<br />
Mit anderen Worten: Der grosse Andere existiert nicht in<br />
der Art von Lebewesen oder Dingen, sondern er macht sich<br />
nur in seinem Fehlen bemerkbar. Aber auch in sich ist der<br />
Grosse Andere gespalten, in einen sprachlich-symbolischen<br />
und einen sexuell-biologischen Aspekt. Beide Aspekte des<br />
Grossen Anderen geben ihrerseits Anlass zu binarisierenden<br />
Vereinfachungen, die Dolar nun widerlegt: Wenn der Grosse<br />
Andere die «Struktur» der Sprache meinte, dann würde es<br />
naheliegen, diese Struktur, als eine di≠erentielle, unter das<br />
Banner der Zählbarkeit einzureihen. Doch nicht die Struktur<br />
an sich konstituiert den Grossen Anderen, sondern die<br />
unvorhersehbaren Möglichkeiten, «Fehler», Abweichungen<br />
innerhalb dieser Struktur zu begehen. Wenn der Grosse<br />
Andere andererseits den Sex, den Schnitt, die Sektion der<br />
Geschlechter meint, dann könnte man darauf verfallen, ihn<br />
als duale Opposition zwischen dem Männlichen und dem<br />
Weiblichen zu verstehen, mit dem Phallus als discrimen.<br />
Dolar weist aber nach, dass die Psychoanalyse den Schnitt<br />
der Geschlechtlichkeit schon seit Freud nicht zwischen zwei<br />
Geschlechtern ansetzt, sondern zwischen dem natürlichen,<br />
instinkthaften Bedürfnis (Hunger und Durst), das physiologisch<br />
befriedigt werden kann, und den sexualisierten Trieben,<br />
deren Begehrensstruktur von jedem konkreten Objekt<br />
und jedem konkreten Befriedigungserlebnis abgekoppelt ist<br />
und damit in den Bereich des Phantasmatischen umschlägt.<br />
Gerade die Überlappung des Triebhaft-Körperlichen und<br />
des Sprachlich-Symbolischen – in ihrer «Denaturierung»,<br />
ihrer vielfältigen Möglichkeit der Abweichung von Struktur<br />
einerseits und Biologie andrerseits – macht <strong>für</strong> Dolar den<br />
Grossen Anderen aus. Der Text endet mit einer Rückkehr zu<br />
den Griechen und der Atomlehre von Demokrit und Lukrez.<br />
In dem clinamen der frühen Atomisten, einem winzigen primordialen<br />
Einfluss auf die Bahnen der Atome, der nicht<br />
nichts, aber auch nicht etwas ist und den Demokrit mit dem<br />
Kunstwort δέν belegt (auf Deutsch etwa: «Ichts»), erkennt<br />
Mladen Dolar die «minimale Figur der Zwei»: eine nicht<br />
zählbare Di≠erenz diesseits der Eins. Der Logik seines Textes<br />
folgend, identifiziert er letztere mit dem psychoanalytischen<br />
Partialobjekt, dem lacanschen kleinen anderen oder<br />
«objet a». Dolars Argumentation verfolgt aber die Spannung<br />
zwischen den beiden Arten der irreduziblen, nicht zählbaren<br />
Zwei – der absoluten Spaltung und der inneren Di≠erenz –<br />
nicht weiter.<br />
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