Heft - Institut für Theorie ith
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Julia<br />
Gelshorn<br />
Markus<br />
Klammer<br />
Florian<br />
Neuner<br />
Stefan<br />
Neuner<br />
11<br />
Vorwort<br />
• S. 94–99<br />
Gerade diese Spannung aber untersucht Alenka Zupančič<br />
in ihrem Text The Double and its Relationship to the Real.<br />
Unter Bezugnahme auf die Schriften des französischen Philosophen<br />
Clément Rosset fasst sie die Figur der Zwei als die<br />
des Doppels, das weder eines noch zwei ist. Auch <strong>für</strong><br />
Zupančič liegt die wesentliche Charakteristik der Zwei als<br />
Doppel in ihrer Unzählbarkeit. Ein Doppel legt keine Beziehung<br />
oder Relation zwischen zwei unabhängig voneinander<br />
bestehenden Entitäten fest, sondern führt vielmehr einen<br />
fundamentalen Zweifel in die Existenz einer <strong>für</strong> sich bestehenden,<br />
«ursprünglichen» Einheit ein. Indem das Doppel<br />
sich als ein Zweites, Identisches präsentiert, spaltet es<br />
zugleich die Eins. Ein Doppel, etwa in der notorischen Form<br />
des Doppelgängers, erzeugt eine ontologische Unvereinbarkeit,<br />
einen Bruch der Realität: Exakt dieselbe Stelle in der<br />
Raumzeit oder im sozialen Raum wird von zwei Prätendenten<br />
beansprucht. Rosset bestimmt laut Zupančič das Reale<br />
als das, was ist, wie es ist. Diese stupide Selbstidentität treibt<br />
die Menschen dazu an, es zu verdoppeln, und bringt sie dazu,<br />
unverbrüchlich an Illusionen zu glauben. Das grösste Skandalon,<br />
welches die konstitutive Illusion der Menschen zerreisst,<br />
dass es mehrere Varianten der Wirklichkeit gäbe,<br />
stellt <strong>für</strong> Rosset deswegen die eingetro≠ene Prophezeiung<br />
dar. Nicht ihr Eintre≠en entgegen aller Wahrscheinlichkeit<br />
ist das Erstaunliche, sondern die banale, identitäre Struktur<br />
der Wirklichkeit, die sich in ihm enthüllt. Darauf aufbauend<br />
entwickelt Rosset eine <strong>Theorie</strong> der Liebe, die zwischen realer<br />
/ wahrer Liebe und leidenschaftlicher «romantischer»<br />
Liebe unterscheidet: Für die leidenschaftliche Liebe ist eine<br />
phantasmatische Verdoppelung des geliebten Objekts charakteristisch.<br />
Durch diese Verdoppelung werden sowohl das<br />
geliebte Objekt als auch das phantasierte Objekt auf ewig<br />
unerreichbar. Die reale / wahre Liebe hingegen besteht <strong>für</strong><br />
Rosset gerade im Zerreissen der phantasmatischen Illusion<br />
und in dem darauf folgenden glückhaften Staunen, «dass du<br />
du bist». Hier setzt Zupančičs Kritik ein: Rosset huldige<br />
einem ontologischen Dualismus von Realem und Illusion,<br />
den er zugunsten des selbstidentischen Realen aufzulösen<br />
trachte. Doch auch reale / wahre Liebe würde in einer<br />
Mischung aus beiden Komponenten bestehen, «preserving<br />
the transcendence in the very accessibility of the other».<br />
Gerade in den jüngsten Schriften Rossets würde dieser Dualismus<br />
Raum greifen, wenn Rosset das Reale als ebenso<br />
ursprünglich wie unsichtbar, sich selbst verbergend kennzeichne.<br />
Aus diesem Argument lässt sich unmittelbar eine<br />
Kritik am Konzept des Grossen Anderen, wie es Dolar in<br />
Anlehnung an die kantischen Aporien präsentiert, herauslesen.<br />
Dementgegen bindet Zupančič das Doppel an die Figur<br />
der «Wiederholung desselben». Die Wiederholung desselben<br />
führt eine minimale Di≠erenz ein, welche die Selbstidentität<br />
des «Originals» zerstört. Das Doppel als Wiederholung<br />
desselben oszilliert zwischen Eins und Zwei. In einer<br />
harschen Volte entlang dem rossetschen Paradigma der<br />
erfüllten Prophezeiung und dem liebenden Erstaunen, «dass<br />
du du bist», definiert Zupančič das Reale nun als in sich doppelt<br />
und das Doppel als das eigentlich Reale. Gegen ein<br />
transzendentales Anderes kantischen Zuschnitts, das den<br />
ersten Teil von Dolars Text dominiert, nimmt sie Partei <strong>für</strong><br />
Nietzsches Begri≠ des «Mittags»: Mittag als «Augenblick<br />
des kürzesten Schattens» ist <strong>für</strong> Nietzsche, wie Zupančič<br />
nachweist, keinesfalls die Zeit ohne Schatten, es ist vielmehr<br />
die Zeit, in der der Schatten eines Dings auf dieses selbst<br />
fällt, es selbst als seinen Schatten setzend und um sich selbst<br />
verdoppelnd. Es ist der Augenblick, wo aus Eins Zwei wird.<br />
• S. 112–118<br />
Sowohl bei Zupančič als auch bei Dolar wird die Figur der<br />
Zwei ganz wesentlich von der Spaltung, der Wiederholung,<br />
der Di≠erenz her gedacht. Dabei treten diese Begri≠e beinahe<br />
ausschliesslich im Singular auf. Warum das so ist, darüber<br />
könnte der Beitrag von Ruth Sonderegger Aufschluss<br />
geben. Sonderegger nähert sich der Problematik der Zwei<br />
unter dem Blickwinkel des Kolonialismus und der «abendländischen<br />
Gewalt im Aufteilen zwischen dem Eigenen und<br />
dem Fremden». Sie analysiert zunächst Massimo Cacciaris<br />
Europamanifest und die fatalistische Selbstauszeichnung<br />
des europäischen Denkens, die darin zu Wort kommt. Demgegenüber<br />
würde dessen gewalttätiges, kolonisierendes Element<br />
vorwiegend ausgeblendet werden, so Sonderegger. Mit<br />
Gayatri Chakravorty Spivak spricht Sonderegger von «Deckkategorien»,<br />
die zwar hilfreich sein mögen, die inneren Krisen<br />
des Westens zu analysieren, aber zugleich deren Zusammenhang<br />
mit Imperialismus und Kolonialismus verdecken.<br />
Die Figur der Zwei kann in diesem Zusammenhang geradezu<br />
als eine «Master- oder Meta-Deckkategorie» angesprochen<br />
werden, gibt sie doch unter Titeln wie «Di≠erenz»,<br />
«Unzählbarkeit», «Alterität» und ähnlichem einer – eben<br />
nur scheinbaren – Pluralität Raum. Den Hauptteil des Artikels<br />
nimmt eine Auseinandersetzung mit der <strong>Theorie</strong> der<br />
Gleichheit, wie sie der französische Philosoph Jacques Rancière<br />
entwickelt hat, ein. Gleichheit ist bei Rancière eine Präsupposition<br />
oder notwendige Voraussetzung, wie Sonderegger<br />
zeigt. Bevor sie diese Gleichheit nun Punkt <strong>für</strong> Punkt als<br />
Deckkategorie im spivakschen Sinne entlarvt, hebt die Autorin<br />
durchaus zustimmend zwei Grundzüge der rancièreschen<br />
Konzeption hervor: Gleichheit kann nicht dekretiert,<br />
sondern nur aus der Position der Ausgeschlossenen, Unterdrückten<br />
eingefordert und erstritten werden. Und: Dem<br />
Streit der Ausgeschlossenen, Unterdrückten um Anerkennung<br />
kommt eine prinzipielle Universalität zu. Er steht allen<br />
o≠en. Jeder muss sich ihm anschliessen können. Nichtsdestotrotz<br />
erweist sich die quasi-transzendentale Präsupposition<br />
von Gleichheit als ausgesprochen problematisch: Nicht<br />
alle Ausgegrenzten, besonders jene, die besonders brutal<br />
unterdrückt werden, können <strong>für</strong> sich selbst sprechen. Nicht<br />
immer und überall ist Widerstand möglich. Die Präsupposition<br />
von Gleichheit ist keine transzendentale Gegebenheit,<br />
sondern eine historisch-politische Errungenschaft, die immer<br />
wieder neu zu verteidigen ist und vielerorts allererst hergestellt<br />
werden muss. Selbst Gesellschaften mit di≠erenzierten<br />
Vorstellungen von Gleichheit haben niemals Probleme<br />
gehabt, die Gleichheit auf bestimmte Gruppen einzuschränken<br />
und anderen vorzuenthalten. In diesem Zusammenhang<br />
weist Sonderegger auf den europäischen Sklavenhandel hin,<br />
der zu Zeiten Kants und des kategorischen Imperativs eine<br />
Hochblüte erlebte. So ist die Gleichheitspräsupposition Rancières<br />
entweder zynisch oder trivial: Nicht jeder, der über<br />
den Begri≠ der Gleichheit verfügt, muss auch danach handeln.<br />
Darüber hinaus sind Rancières Beispiele allesamt dem<br />
europäischen Kontext entnommen, einem Kontext, in dem<br />
eine bestimmte faktische <strong>Institut</strong>ionalisierung von Gleichheit<br />
schon vorausgesetzt werden konnte, deren Ausweitung<br />
oder Generalisierung es einzufordern galt.