152 Abb. 8 Théodore Géricault, Die Gipsbrennerei (1820–21), Öl auf Leinwand, 50 x 61 cm (Musée du Louvre, Paris) Abb. 9 Jackson Pollock, Number 1A, 1948 (1948), Öl und Lack auf Leinwand, 172,7 x 264,2 cm (The Museum of Modern Art, New York)
Ralph Ubl 153 Entzweiung der Malerei Füttern der Pferde oder das Beladen der Karren, das <strong>für</strong> uns jedoch, die Betrachter des Gemäldes, als Unterbrechung dieser Routine aufblitzt: Ich meine die Staubwolke, die die Szene plötzlich erhellt, indem sie das von rechts oben einfallende Sonnenlicht reflektiert. Dass es sich zugleich um eine Licht- wie um eine Staubwolke, um einen Reflex und um weisses Pulver handelt, dürfte Géricault besonders fasziniert haben. Denn das Weiss, das auf den Pferdekörpern, den Karren und den Gebäuden liegt, ist nicht einfach Licht, es gleicht ebenso sehr jenem grau-weissen Pulver, aus dem die Wolke besteht. Insgesamt zeichnet sich das Gemälde durch scharfe Helldunkelkontraste aus – besonders deutlich in der Gegenüberstellung der Gipswolken und der dunklen Mauerö≠nungen –, die sich zugleich als Kontraste im materiellen Aufbau der Landschaft erweisen: Die Helligkeit verdichtet sich zum Weiss des Gipses, das Dunkel wiederum sickert ein in den schlammigen Boden. Licht und Materie gehen unmerklich ineinander über, Reflexe sind von Staubflecken, Schatten von Schlamm nur schwer unterscheidbar, und diese eigentümliche Vermischung von optisch-visuellen und materiellen Farben wird noch dadurch betont, dass auch das Gemälde selbst überaus dicht gemalt ist. Die Darstellung ist mit grösstem Nachdruck in ihrem Träger verankert, so als dürfte die Verwandlung von Erde in weissen Staub und von weissem Staub in Lichterspiel in keinem Fall dazu führen, dass sich das Bild von seinem materiellen Substrat löst. Das Gemälde nimmt vielmehr selbst an dem Kreislauf teil, den es darstellt, an der Transformation von dichter Materie in eine Lichterscheinung, die sich wieder als Staubschicht ablagern wird. So wie die Gipsbrennerei nicht einfach in der Landschaft steht, sondern diese tiefgehend verändert hat, so zeigt auch das Gemälde nicht einfach eine Landschaft mit Gipsbrennerei, sondern bezieht seine eigene Genese auf diese doppelte Produktion, auf die Herstellung von Gips und die damit einhergehende Scha≠ung einer neuen Landschaft, die ihr Zentrum in einer rudimentären Chemiefabrik hat. • Die beiden Stillleben und Eine Gipsbrennerei erscheinen, so gesehen, als Antipoden. Während Eine Gipsbrennerei die Malerei auf eine Welt mechanischer und chemischer Abläufe bezieht, auf Verkettungen, an denen Menschen als Glieder beteiligt und mit Nutztieren, Fuhrwerken, Wegen, Gebäuden und Öfen zusammengefügt sind, so wird die Malerei in Eine tote Katze und in Stillleben aus Leichenteilen als eine Kunst bestimmt, die im Nahraum zwischen Gemälde und Maler entsteht, in Reichweite des menschlichen Körpers, dessen eigene Dichte und Tiefe mit jener des Gemäldes in Korrespondenz tritt. Beides, die Dezentrierung der Malerei wie auch deren Rückzug auf den körperlichen Nahraum, lässt sich auf Das Floss der Medusa beziehen: Die Figuren der Schi≠brüchigen bilden eine in die Tiefe orientierte Pyramide, so, als wären ihre Körper die Elemente einer perspektivischen Konstruktion. Die Dramatik des Gemäldes resultiert denn auch vor allem aus dem Kontrast zwischen dem aufgerichteten Kollektivkörper und der Fläche des Meeres, die keine Orientierungspunkte bietet ausser dem gerade zwei Zentimeter messenden Motiv der rettenden Fregatte Argus, auf die die Körperperspektive der Figuren hin ausgerichtet ist. In dieser Körperperspektive deutet sich eine Bildtiefe an, die nicht nur optisch-visuell, sondern zugleich dicht und somatisch ist. So gesehen lässt sich Das Floss der Medusa als Konflikt zwischen zwei Raumformen begreifen – zwischen dem Raum des o≠enen Meeres, der das menschliche Handeln dem Haus, der Polis und dem Schlachtfeld entfremdet, und der verkörperten Perspektive der Figuren, die diesem Raum eine Richtung abgewinnt. In seinen kleinformatigen Werken löst Géricault diese Spannung des Historienbildes nach zwei Seiten hin auf: In den Londoner Bildern und L<strong>ith</strong>ographien sowie in Eine Gipsbrennerei geschieht dies durch Ö≠nung des Bildes auf einen unbehausten Zirkulationsraum, auf die Themen der Fahrt und der Ortlosigkeit, denen aber (anders als im Historienbild) kein Handlungsraum mehr abgerungen wird, da Menschen nur mehr als Glieder in routinierten Abläufen tätig sind. Gemälde wie Stillleben aus Leichenteilen und Eine tote Katze schliessen an Das Floss der Medusa hingegen insofern an, als sie eben jene physische Tiefe und Dichte, die sich in der Körperperspektive der Schi≠brüchigen andeutet, in einen intimen Nahraum übertragen, um die Malerei in der Sphäre körperlicher Reichweite einzuhegen. Wir haben es daher mit einem Zwiespalt zu tun, der insofern auf Das Floss der Medusa zurückweist, als dieses sowohl den somatischdichten Raum als auch den Zirkulationsraum in sich aufnimmt, um aus deren Konflikt seinen eigenen Antagonismus zu gewinnen. Géricaults Entzweiung der Malerei weist indes nicht nur zurück auf das monumentale Werk. Die Staubwolke in Eine Gipsbrennerei kündigt zudem eine ganz andere, neue Möglichkeit der Malerei an, die aus der hier vorgenommenen Unterscheidung zwischen Nahraum und Zirkulationsraum hervorgeht und sie zugleich hinter sich lässt. Diese neue Malerei, die <strong>für</strong> die Moderne genauso wichtig ist wie die beiden Enden der Entzweiung, zeichnet sich durch eine opake, dichte, eigene materielle Tiefe aus, die allerdings nicht auf den menschlichen Körper bezogen ist, sondern jenseits von dessen Reichweite in Erscheinung tritt. Industrielles Gewölk ist in der Kunst eines Edouard Manet, Camille Pissarro oder Fernand Léger denn auch nicht einfach ein ikonographisches Anzeichen von Modernität, es dient vielmehr als Figur einer Kunst, die sich in den flüchtigen Spuren maschineller Produktion verkörpert, eine Kunst der Kondensation, die die Gase und Dämpfe in den flüssigen und sich verfestigenden Zustand des gemalten Bildes überführt. 8 Diese künftige Malerei aus industrieller Farbe und optischem Flirren, die ich in der atmosphärischen und zugleich materiell-dichten Erscheinung von Géricaults Staubwolke erkennen möchte, wird ihrerseits zu monumentalen Werken führen, die wiederum den körperlichem Nahraum – und sei es auch nur durch einen Handabdruck – und maschinelle Rotationsbewegungen aufeinander beziehen. Abb. 9 Von diesem Endpunkt aus gesehen endet die Geschichte, die von Géricaults Entzweiung des dramatischen Tableau ausgeht, nicht im Dualismus, sondern mündet in jene Dialektik, die den Modernismus mit der Kunst der Vergangenheit verbindet. 9 8 - Vgl. auch T. J. Clark, The Painting of Modern Life. Paris in the Art of Manet and his Followers (Revised Edition), Princeton 1999, Preface to the Revised Edition, S. x–xxx; ders., «Modernism, Postmodernism, and Steam», in: October, 100, 2002, S. 154–174. 9 - Zu den Zweifeln an dieser Dialektik, wie sie in Jasper Johns’ Diptychen formuliert wurden, vgl. Wolfram Pichler / Ralph Ubl, «Enden und Falten. Geschichte der Malerei als Oberfläche», in: Neue Rundschau, 114, 4, 2002, S. 50–71; zur Fortdauer der modernistischen Dialektik vgl. Michael Fried, Why Photography Matters as Art as Never Before, New Haven / London 2008.
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