09.03.2014 Aufrufe

Heft - Institut für Theorie ith

Heft - Institut für Theorie ith

Heft - Institut für Theorie ith

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

65<br />

Manche wachsen so auf, dass sie die Wörter zählen und erzählen<br />

von Anfang an kennen, und selbst wenn sie nie an den Zusammenhang<br />

denken, gehören diese Wortbildungen zu ihrer Biographie.<br />

Bei meinem Lebenslauf hatte ich es mit anderen Wortvorstellungen<br />

zu tun; im Ungarischen hängt das Erzählen mit dem<br />

uralten Wort Märchen zusammen, wenn jemand berichtet und<br />

erzählt, märchent er, und das Märchenen erinnert nicht im Entferntesten<br />

an das Zählen, weil das eine Wort mit dem anderen<br />

nichts zu tun hat. Hingegen war mir das dann und dann und<br />

dann von Anfang an bekannt, das ist überall bekannt, insofern<br />

geht die Zählweise mit eins eins eins jeden an.<br />

Anfangs kannte ich nur eine Sprache, während andere mit<br />

zwei oder sogar drei Sprachen aufwachsen und die unterschiedlichsten<br />

Wörter und deren leicht verschobene Bedeutungen<br />

ertragen müssen, oder womöglich ist das kein Ertragen, sondern<br />

eine Freude und von vornherein eine Bereicherung (ein Ertrag),<br />

ich weiss es nicht. Meinerseits kannte ich nur eine Sprache, allerdings<br />

ist das so nicht die ganze Wahrheit, denn in meiner Umgebung<br />

sprach jede einzelne Person anders, jede hatte ihre Wortwahl<br />

und ihre eigene Stimmlage, und ich glaube, man müsste<br />

einsam tief im Urwald leben, um nur eine einzige Sprache zu vernehmen,<br />

um nicht mindestens bis zwei zählen zu können. Und<br />

selbst im Urwald hätte man eine Fülle von fremden Lauten um<br />

sich. Daher ist es vielleicht eher eine Kunst, die vielfachen Möglichkeiten<br />

zu ignorieren, nicht an mehrere Dinge gleichzeitig zu<br />

denken, keine zweite und dritte Ausdrucksmöglichkeit zu<br />

suchen, und es ist eine Kunst, sich auf die eins eins eins zu<br />

konzentrieren.<br />

Unabhängig von den unterschiedlichen Stimmlagen und<br />

Ausdrucksweisen hatte ich auch fremde Sprachen um mich,<br />

zumindest in der Ferne. Hinter verschlossenen Türen diskutierten<br />

meine Eltern heimlich auf Deutsch, und auch Russisch<br />

gehörte zum vertrackten Alltag (im damaligen Ungarn war Russisch<br />

etwas Vertracktes, es hing mit Gefahren und Verboten<br />

zusammen, mit einer deprimierenden Gesamtlage und nicht<br />

etwa mit der Wirklichkeit dieser schönen, sehr schönen Sprache).<br />

Das Fremde lag in unmittelbarer Nähe, nur hätte ich wahrscheinlich<br />

sogar ohne solche Erfahrungen irgendwann angefangen,<br />

eine Sprache zu erfinden, eine zweite Sprechmöglichkeit zu

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!