Heft - Institut für Theorie ith
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Manche wachsen so auf, dass sie die Wörter zählen und erzählen<br />
von Anfang an kennen, und selbst wenn sie nie an den Zusammenhang<br />
denken, gehören diese Wortbildungen zu ihrer Biographie.<br />
Bei meinem Lebenslauf hatte ich es mit anderen Wortvorstellungen<br />
zu tun; im Ungarischen hängt das Erzählen mit dem<br />
uralten Wort Märchen zusammen, wenn jemand berichtet und<br />
erzählt, märchent er, und das Märchenen erinnert nicht im Entferntesten<br />
an das Zählen, weil das eine Wort mit dem anderen<br />
nichts zu tun hat. Hingegen war mir das dann und dann und<br />
dann von Anfang an bekannt, das ist überall bekannt, insofern<br />
geht die Zählweise mit eins eins eins jeden an.<br />
Anfangs kannte ich nur eine Sprache, während andere mit<br />
zwei oder sogar drei Sprachen aufwachsen und die unterschiedlichsten<br />
Wörter und deren leicht verschobene Bedeutungen<br />
ertragen müssen, oder womöglich ist das kein Ertragen, sondern<br />
eine Freude und von vornherein eine Bereicherung (ein Ertrag),<br />
ich weiss es nicht. Meinerseits kannte ich nur eine Sprache, allerdings<br />
ist das so nicht die ganze Wahrheit, denn in meiner Umgebung<br />
sprach jede einzelne Person anders, jede hatte ihre Wortwahl<br />
und ihre eigene Stimmlage, und ich glaube, man müsste<br />
einsam tief im Urwald leben, um nur eine einzige Sprache zu vernehmen,<br />
um nicht mindestens bis zwei zählen zu können. Und<br />
selbst im Urwald hätte man eine Fülle von fremden Lauten um<br />
sich. Daher ist es vielleicht eher eine Kunst, die vielfachen Möglichkeiten<br />
zu ignorieren, nicht an mehrere Dinge gleichzeitig zu<br />
denken, keine zweite und dritte Ausdrucksmöglichkeit zu<br />
suchen, und es ist eine Kunst, sich auf die eins eins eins zu<br />
konzentrieren.<br />
Unabhängig von den unterschiedlichen Stimmlagen und<br />
Ausdrucksweisen hatte ich auch fremde Sprachen um mich,<br />
zumindest in der Ferne. Hinter verschlossenen Türen diskutierten<br />
meine Eltern heimlich auf Deutsch, und auch Russisch<br />
gehörte zum vertrackten Alltag (im damaligen Ungarn war Russisch<br />
etwas Vertracktes, es hing mit Gefahren und Verboten<br />
zusammen, mit einer deprimierenden Gesamtlage und nicht<br />
etwa mit der Wirklichkeit dieser schönen, sehr schönen Sprache).<br />
Das Fremde lag in unmittelbarer Nähe, nur hätte ich wahrscheinlich<br />
sogar ohne solche Erfahrungen irgendwann angefangen,<br />
eine Sprache zu erfinden, eine zweite Sprechmöglichkeit zu