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Heft - Institut für Theorie ith

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Ruth<br />

Sonderegger<br />

113<br />

Einheit,<br />

Zweiheit, (Un-)<br />

Gleichheit<br />

zwischen zwei Polen zu entwerfen oder sie nach<br />

dem Modell der Ellipse zu denken, die bekanntlich<br />

zwei Brennpunkte hat. Da wäre auch noch das<br />

dialogische oder gar polylogische Denken von Platon<br />

über Martin Buber und Hans-Georg Gadamer<br />

bis zu Michail M. Bachtin oder Jürgen Habermas.<br />

Vermutlich ist Ihnen diese Beispielreihe<br />

nicht ganz geheuer – zumal wenn Sie mit poststrukturalistischen<br />

und dekonstruktiven Einwänden<br />

gegenüber nur scheinbar gewaltlosen Zweier-<br />

Beziehungen vertraut sind. Diese jüngeren Einwände<br />

sind genauso ernst zu nehmen wie etwa<br />

Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Dialektik<br />

der Aufklärung, der es schon 1944 um den<br />

Nachweis ging, dass es eine Identitätsfindung –<br />

oder eher Identitätsbehauptung – ohne die Gewaltsamkeit<br />

der Zwei nicht gibt. 2 Jede Identitätskonstruktion<br />

– sei sie nun bezogen auf ein Ich, ein<br />

Du oder einen Gegenstand – müsse so viel von jedem<br />

singulären Phänomen abschneiden, dass<br />

zusammen mit der Identität das aus ihr Ausgeschiedene<br />

– der Abfall sozusagen – als das Andere<br />

des Identischen mitproduziert werde. Dieses Zweite,<br />

das Abfallprodukt der Identität, wird dann so<br />

sehr gehasst wie begehrt. Es ist verboten und verheisst<br />

doch alles, was man im identitären Leben<br />

nicht bekommt.<br />

Dass Adorno und Horkheimer diese <strong>Theorie</strong><br />

des identifizierenden Denkens im Exil und im<br />

Angesicht des Holocaust entwickelt haben, ist<br />

nicht unwichtig mitzudenken. Denn es erhellt<br />

schlagartig, wie weit entfernt ihre Überlegungen<br />

von abstrakten Spekulationen sind. Aus dieser<br />

Zeitgebundenheit darf man aber nicht schliessen,<br />

dass Adorno und Horkheimer ihre negative Identitätstheorie<br />

<strong>für</strong> die Zeit eines Unfalls oder Ex -<br />

tremfalls entwickelt hätten. Sie betonen vielmehr,<br />

dass der Holocaust eine lange (Vor-)Geschichte<br />

habe und nichts wahrscheinlicher sei als seine<br />

Fortsetzung. Einen wirklichen Ausweg aus diesem<br />

Zwangszusammenhang gibt es Adorno und Horkheimer<br />

zufolge vorerst nicht.<br />

Das einzige, was jener behutsamen, aber<br />

beharrlichen Reflexion, die Adorno später als<br />

«negative Dialektik» entwickelt, 3 bleibt, besteht<br />

darin, nachträglich selbstreflexiv das Unrecht zu<br />

thematisieren, welches Denken fortlaufend verursacht.<br />

In grösster Perversion zeigt sich die immer<br />

zu spät kommende Reflexion auf die Gewalt von<br />

Identitätsbehauptungen heute wohl in bestimmten<br />

Formaten der Kriegsberichterstattung. Ich<br />

meine jene Nachrichtensendungen, die zuerst die<br />

Handlungen und Folgen kriegerischer Vernichtung<br />

zeigen, die nächsten Sekunden aber schon<br />

den Gesprächen jener staats- oder staatenlos<br />

gewordenen Oberhäupter widmen, die sich bereits<br />

Gedanken über den Wiederaufbau machen und<br />

über Versöhnungsprogramme nachdenken, während<br />

im Hintergrund weiter gemordet wird.<br />

Die Nähe von Adornos Überlegungen zu<br />

denen Jacques Derridas ist evident. Wie Adorno<br />

weist auch Derrida darauf hin, dass Identitätsdenken<br />

als Reaktion auf sein Scheitern immer<br />

neue Oppositionen produziert; Oppositionen, die<br />

keine Paare aus gleichberechtigten Partnern sind,<br />

sondern Hierarchien. Auf der Suche nach Einheit<br />

produzieren wir eine hierarchische Zweiheit. Oder<br />

genauer gesagt: Diese Zweiheit reproduziert sich<br />

durch die Logik binärer Zeichensysteme selbst,<br />

und zwar so, dass jeweils ein Teil von zweien als<br />

der schlechtere erscheint und dann mit gutem<br />

Gewissen untergeordnet oder ausgeschlossen<br />

werden kann. Wie bei Adorno kann dieser Gewaltsamkeit<br />

auch Derrida zufolge immer nur ex post<br />

begegnet werden – nachdem sie schon passiert ist<br />

und gehandelt wurde.<br />

Wenn es einen Unterschied zwischen Derrida<br />

und Adorno gibt, dann ist es in meinen Augen<br />

der, dass bei Derrida per definitionem kein Weg<br />

aus der abendländisch gewaltsamen Kette von<br />

Supplementen <strong>für</strong> eine so unau∞ndbare wie einzigartige<br />

Identität hinaus führt. 4 Es gibt kein<br />

Aussen zu dieser Supplementlogik, die Derrida<br />

auch als die Logik der Zeichen, des Textes und der<br />

abendländischen Metaphysik bezeichnet. Adorno<br />

hingegen will die Ho≠nung auf eine Alternative<br />

nicht aufgeben. Andernfalls habe man sich damit<br />

abgefunden oder gar zu einer ontologischen<br />

Struktur verklärt, dass Identifizieren im Denken<br />

und Handeln mit einer Gewalt einhergeht, die<br />

man nur nachträglich reflektieren kann.<br />

So meinte Adorno auch, es mache einen<br />

riesigen Unterschied, ob die Gewalt des Identifizierens<br />

reflexiv erinnert oder einfach sich selbst<br />

überlassen wird. Zumindest zukünftigen Generationen<br />

wird mit dieser Reflexion nämlich der Türspalt<br />

zwischen dem status quo und einem Zustand,<br />

der so anders wäre, dass das Nichtidentische Platz<br />

bekäme, o≠engehalten. Damit bleibt auch jene<br />

Di≠erenz zwischen Sein und Anderssein erhalten,<br />

die Kritik ermöglicht. So gibt es bei Adorno durchaus<br />

etwas in unsere Verantwortung Gelegtes, das<br />

nicht ontologisch notwendig passiert. In Bezug auf<br />

Derrida scheint mir eine solche ethisch-politische<br />

Sinnhaftigkeit der Auseinandersetzung mit jener<br />

Zwei, die immer schon da zu sein scheint, wenn<br />

man Eins will, viel schwieriger zu verteidigen.<br />

Denn bei Derrida ist die supplementäre Gewalt<br />

der Zwei von einer historischen zu einer ontologischen<br />

Struktur geworden, zu der ein Aussen weder<br />

gedacht noch erho≠t werden kann. Es gibt nur das<br />

nachträgliche Trauern.<br />

Adornos negative Dialektik oder Derridas<br />

<strong>Theorie</strong> der Supplementaritätslogik sind selbstredend<br />

nicht die einzigen Entwürfe, der abendländischen<br />

Gewalt im Aufteilen zwischen dem Eigenen<br />

und dem Fremden eine Alternative entgegen<br />

zu halten. Im schon zitierten Text von Klammer<br />

und Neuner wird beispielsweise auch Leo Bersanis<br />

<strong>Theorie</strong> einer Identitätskonstruktion nach<br />

dem Modell der homoerotischen Liebe genannt;<br />

einer Liebe zwischen Gleichen, aus der sich möglicherweise<br />

auch allgemeinere nicht-repressive<br />

Vorstellungen von Gleichheit entwickeln lassen<br />

könnten.<br />

Wenn es um Alternativen zur Gewalt der<br />

Zwei geht, wären auch all jene Philosophien zu<br />

nennen, die so über das Subjekt hinaus denken,<br />

dass es verschwindet, zumindest in den uns geläufigen<br />

Formen: sei es in einem Schwarm, in der<br />

2 - Vgl. Theodor<br />

W. Adorno / Max<br />

Horkheimer,<br />

Dialektik der Aufklärung.<br />

Philosophische<br />

Fragmente,<br />

Frankfurt a. M.<br />

1986.<br />

3 - Vgl. Theodor W.<br />

Adorno, Negative<br />

Dialektik, Frankfurt<br />

a. M. 1966.<br />

4 - Vgl. insbesondere<br />

Jacques Derrida,<br />

Grammatologie,<br />

Frankfurt a. M.<br />

1983.

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