Heft - Institut für Theorie ith
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Mille plateaux), finden wir die Feststellung: «Der<br />
Begri≠ ohne Gegensatz nicht denkbar. […] Der<br />
Begri≠ ohne seinen Gegensatz nicht wirksam. […]<br />
Es gibt keinen Begri≠ an sich, sondern meistens<br />
nur Begri≠s paare.» 6 Dem Begri≠ den Gegensatz<br />
zu nehmen führt ins Chaos.<br />
Zurück zu Deleuze. Um hier die Beziehung<br />
zu Aristoteles schematisch festzuhalten, sollte man<br />
drei Ebenen unterscheiden. Auf der mittleren Ebene<br />
liegt der Gegensatz im Sinne der Zweiheit seiner<br />
Pole als Prinzipien. Eine Ebene höher liegt die<br />
Form als Einheit dieses Gegensatzes, ein Allgemeines.<br />
Der Gegensatz aber ist, wenn auch einem Allgemeinen<br />
untergeordnet, noch keineswegs «Figur».<br />
Er ist auch hier, in der Physik, eine negative logische<br />
Struktur: Zum Weissen wird etwas aus dem<br />
Nicht-Weissen. Das ist keine darstellbare Positivität.<br />
Aber Deleuze hat eine dritte, niedere Ebene im<br />
Blick, auf der die Di≠erenz figürlich, begri≠slos<br />
präsent wäre, gleichsam aus dem Gegensatz heraus<br />
genommen. Also noch einmal die drei Ebenen,<br />
von oben nach unten: Die Form – der Gegensatz<br />
selbst – die Figur. (Die Definition der «figura» bei<br />
Giordano Bruno, im Sigullus sigillorum – «per<br />
figuram inquam visibilem formarum nobis rationes<br />
indicat natura» 7 – ist eine traditionelle und<br />
wenig riskante Variante davon).<br />
Der vielleicht interessanteste Gedanke von<br />
Deleuze in diesem Kontext ist sein Bezug auf<br />
Kant: Dieser hat tatsächlich, zum ersten Mal in<br />
einer Schrift von 1768 (Von dem ersten Grunde des<br />
Unterschiedes der Gegenden im Raum), reale und<br />
zugleich nicht-begriffliche Unterscheidungen (in<br />
den sogenannten «inkongruenten Gegenstücken»)<br />
als konstitutiv <strong>für</strong> geometrische Identität<br />
erkannt und daraus ein Argument zugunsten der<br />
Realität des Raumes gemacht. Deleuze:<br />
«Wir müssen dann die Existenz nicht-begrifflicher<br />
Di≠erenzen zwischen diesen Objekten anerkennen.<br />
Am deutlichsten kennzeichnete Kant die Korrelation<br />
zwischen Begri≠en mit einer bloß unbestimmten<br />
Spezifikation und nicht-begrifflichen, rein raumzeitlichen<br />
oder gegensätzlichen Bestimmungen<br />
(Paradox der symmetrischen Objekte).» 8<br />
Hier zeichnet sich Zweiheit als Figur ab, und darüber<br />
hinaus generiert sie als diese Figur sogar<br />
einen eigenen Typ von Relationalität (Raum).<br />
Die Anspielung auf Kant ist deshalb willkommen,<br />
weil dieser selbst den Zusammenhang<br />
sehr genau – und im Grunde in derselben Absicht<br />
wie Deleuze – reflektiert hat. Er sollte ja später die<br />
Ganzheiten solcher begri≠slos-di≠erenter Daten<br />
exakt mit dem Begri≠ einer «figürlichen Synthesis»<br />
bezeichnen, und der dazwischen liegende<br />
Bruch in seiner Entwicklung besteht in nichts<br />
anderem als der scharfen Aufwertung der nichtbegrifflichen<br />
(intuitiven) Strukturen zu einer irreduziblen<br />
Agentur von Erkenntnis. Und doch kann<br />
man hier schon ahnen, was den Wert des ganzen<br />
Gedankens von einer figürlichen Darstellung der<br />
Zwei <strong>für</strong> Deleuze limitiert. Denn wir wissen ja,<br />
dass bei Kant die Irreduzibilität des Intuitiven<br />
keineswegs schon seine Autonomie bedeutet:<br />
Einen objektiven Erkenntniswert stellt es nur in<br />
der Deutung von begrifflichen Strukturen dar.<br />
Ähnlich verhält es sich bei Deleuze: Derartige<br />
Fälle von begri≠sloser Di≠erenz liegen in<br />
Wahrheit nicht jenseits der begrifflichen Identität,<br />
sondern existieren gleichsam an ihrer Grenze, als<br />
Blockierung des virtuell unendlichen Inhalts eines<br />
Begri≠es (man denke an das Chaos bei Klee). Wo<br />
die begriffliche Spezifikation (z. B. im aristotelischen<br />
logischen Raum) endet, bleibt nicht einfach<br />
ein Allgemeines «in der Luft hängen», sondern<br />
wird die Di≠erenz begri≠slos. (Das ist übrigens<br />
genauso bei Giordano Bruno, bei der Bestimmung<br />
des «minimum» als Figur: «Quod nullius est figurae,<br />
non est minimum; pars nempe omnis alicuius<br />
est figurae» – das zweite der «theoremata minimi»<br />
aus den Articuli adversus mathematicos 9 ).<br />
Dieses begri≠slos Di≠erente kann weder zusammenfallen,<br />
noch kann es unterschieden – es kann<br />
nur wiederholt werden.<br />
Die Figur ist eine bestimmte Art von «blocage»<br />
des Begri≠s. Daher ist die Figur (etwa die<br />
der Zwei in den «inkongruenten Gegenstücken»)<br />
zwar eine Bewegung über den Gegensatz und<br />
über das Begriffliche hinaus, aber sie ist nicht<br />
eine Emanzipation der Vielheit aus dem Einen.<br />
Dem entspricht in unserer gewöhnlichen Wahrnehmung,<br />
dass die Figur nicht bloss Vielheit ist,<br />
sondern vor allem Vielheit einschliesst, zusammenschliesst,<br />
so dass sie, um noch einmal auf<br />
(den hier durchgängig interessanten) Bruno zu<br />
verweisen, immer schon eine Tendenz hat, zum<br />
Siegel zu werden. Das «sigillum» ist ja wesentlich<br />
vom «signum» her bestimmt, dessen anschaulicher<br />
Teil (eventuell auch dessen Verkürzung) es<br />
ist: «Sigullum […] signi partem notabiliorem vel<br />
signum contractius acceptum significat.» 10 Als<br />
Beleg dieser verschliessend-versiegelnden Kraft<br />
eines anschaulichen Zeichens möge ein Gedicht<br />
Rilkes dienen – eine richtiggehende Figuration<br />
der Zwei:<br />
Das Wappen<br />
Wie ein Spiegel, der, von ferne tragend,<br />
lautlos in sich aufnahm, ist der Schild;<br />
o≠en einstens, dann zusammenschlagend<br />
über einem Spiegelbild<br />
jener Wesen, die in des Geschlechts<br />
Weiten wohnen, nicht mehr zu bestreiten,<br />
seiner Dinge, seiner Wirklichkeiten<br />
(rechte links und linke rechts),<br />
die er eingesteht und sagt und zeigt.<br />
Drauf, mit Ruhm und Dunkel ausgeschlagen,<br />
ruht der Spangenhelm, verkürzt,<br />
den das Flügelkleinod übersteigt,<br />
während seine Decke, wie mit Klagen,<br />
reich und aufgeregt herniederstürzt. 11<br />
5 - Hugo von<br />
Hofmannsthal,<br />
«Das Buch der<br />
Freunde», in: ders.,<br />
Gesammelte Werke,<br />
Bernd Schoeller<br />
(Hg.), 10 Bde.,<br />
Frankfurt a. M.<br />
1980, Bd. 10.3,<br />
S. 259.<br />
6 - Paul Klee, Das<br />
bildnerische Denken,<br />
Basel / Stuttgart<br />
1964, S. 15.<br />
7 - Giordano Bruno,<br />
«Sigillus sigillorum»,<br />
in: ders.,<br />
Jordani Bruni Nolani<br />
opera latine conscripta,<br />
3 Bde.,<br />
Faks.-Neudr. der<br />
Ausg. v. Tocco<br />
Fiorentino u. a.,<br />
Neapel / Florenz<br />
1879–1891, Stuttgart<br />
/ Bad Cannstatt<br />
1962, Bd. 2.2,<br />
Buch II, 9.<br />
8 - Deleuze, Differenz<br />
und Wiederholung<br />
(wie Anm. 3), S. 83.<br />
9 - Giordano Bruno,<br />
«Articuli adversos<br />
mathematicos»,<br />
in: ders., Opera<br />
latine (wie Anm. 7),<br />
Bd. 1.3.<br />
10 - Giordano Bruno,<br />
«De composi tione<br />
imaginum»,<br />
in: ebd., Bd. 2.3,<br />
Buch I, 3.<br />
11 - Rainer Maria Rilke,<br />
«Das Wappen»,<br />
in: ders., Sämtliche<br />
Werke, Rilke-<br />
Archiv (Hg.), 12<br />
Bde., Frankfurt<br />
a. M. 1975, Bd. 1,<br />
S. 390.<br />
12 - Gilles Deleuze /<br />
Félix Guattari, Mille<br />
plateaux. Capitalisme<br />
et schizophrénie 2,<br />
Paris 1980, S. 31.<br />
13 - Ebd.<br />
14 - Ebd., S. 33.<br />
15 - Ebd.<br />
16 - Vgl. Aristoteles,<br />
Aristotelis Ethica<br />
nicomachea,<br />
Ingram Bywater<br />
(Hg.), Oxford 1894,<br />
1155b, 27ff.<br />
17 - Vgl. ebd., 1166b,<br />
30ff.<br />
18 - Übers. R. H., ebd.,<br />
1156a, 1ff.<br />
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